Das Buch meiner Leben
enthaupteten Leichen und brachten ein Interview mit Vojislav Šešelj, dem serbischen Milizenführer (der heute in Den Haag vor Gericht steht), der versprochen hatte, kroatische Augen mit rostigen Löffeln auszukratzen. Normale Löffel reichten ihm offenbar nicht.
Solche Dinge mochten anfangs noch als schreckliche Ausnahmen gelten. Man konnte sich damit beruhigen, dass ein paar Verrückte komplett durchgeknallt waren, zumal von serbischer und kroatischer Seite immer wieder eine Rückkehr zur Normalität versprochen wurde. Aber bald berichteten wir über die Militärlastwagen, die Waffen (als » Bananen « deklariert) in die mehrheitlich von Serben bewohnten Teile Bosniens brachten. Wir berichteten von den zunehmend aggressiven Parlamentssitzungen und von Pressekonferenzen, auf denen Radovan Karadžić (inzwischen in Den Haag angeklagt) im Beisein meines ehemaligen Professors mit der Faust auf den Tisch donnerte und kaum verhüllt mit Gewalt und Krieg drohte.
Je mehr wir erfuhren, desto weniger wollten wir davon wissen. Unser ganzes Dasein beruhte auf dem hartnäckigen Festhalten an vermeintlicher Normalität. Wenn wir uns in hedonistische Verdrängung stürzten, war das aus unserer Sicht bloß der Versuch, ein normales Leben zu führen. Jede Nacht wurde Party gemacht und getrunken, oft bis in den frühen Morgen. Es wurde viel getanzt. Ich brachte im Kulturteil sogar einen Leitartikel, in dem Guša schrieb, dass noch viel mehr getanzt werden müsse, um die bevorstehende Katastrophe zu verhindern.
Ein Großteil des Geldes, das ich als Redakteur verdiente, wanderte in Glücksspielautomaten. Glücksspiel führt ja zu besonders intensiver Verdrängung. Eine angenehmere Form von Verdrängung war es, wenn wir kifften und Vincente Minnellis Gigi sahen und » Gigi, am I a fool without a mind, or have I really been too blind … « grölten. Pedja und ich betranken uns manchmal schon am Nachmittag und sangen dann mit Dean Martin, einem der großen Anführer der hedonistischen Internationale. An einem wunderbaren Frühlingssamstag saßen wir in unserem Garten, aßen Lammbraten und rauchten erstklassiges Haschisch (das, neben anderen Drogen, überall angeboten wurde, weil der Innenminister den Rauschgifthandel kontrollierte). Das Zeug machte Hunger, wir aßen und rauchten, bis wir so bekifft waren, dass wir wie Luftballons in ferne friedliche Länder hätten davonfliegen können, wenn wir uns nicht den Bauch mit Lammbraten vollgeschlagen hätten.
Diese unbeschwerten Tage, bevor alles zusammenbrach! Wir ließen nichts aus. Bei Redaktionsschluss diskutierten wir die ganze Nacht über Inhalt und Layout der nächsten Ausgabe, wir lebten von Kaffee und Zigaretten und Trance, wir konsumierten Pornos und schrieben Gedichte, wir diskutierten leidenschaftlich über Fußball und debattierten endlos über Fragen wie » Würdest du für eine Million Deutsche Mark ein Pferd ficken? « oder » Besitzt Großmeister Anatoli Karpow ein superschnelles Motorboot? «
Und wir vögelten wahllos in der Gegend herum. Ein, zwei Blicke reichten, selbst wenn der Freund oder die Freundin anwesend war. Ein Umwerben fand nicht mehr statt, wir gingen auch so ins Bett. Und selbst das brauchten wir nicht mehr: Hauseingänge, Parkbänke, Autorücksitze, Badewannen und der Fußboden taten es auch. Wir berauschten uns an Sex à la Titanic, auf einem sinkenden Schiff braucht es keine Sicherheit mehr, und für Beziehungen ist keine Zeit. Es war eine grandiose Zeit für wilden Sex, die kurze Zeit der Euphorie vor dem Untergang, denn nichts steigert die Lust und verhindert Schuldgefühle besser als eine bevorstehende Katastrophe. Die Chancen, die dieser historische Moment uns bot, haben wir leider nicht genutzt.
Im Hochsommer war der prekäre Zustand hysterischer Verdrängung kaum noch aufrechtzuerhalten. Ein Dealer, mit dessen Informationen wir eine Story über den Drogenhandel in Sarajevo gebracht hatten, kehrte nach Kroatien zurück, wo er sofort eingezogen wurde. Irgendwann rief er uns aus irgendeinem Kampfgebiet an und hinterließ eine Nachricht: » Ihr könnt euch nicht vorstellen, was hier los ist! « Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. Er nannte keine Nummer, unter der wir ihn an der Front erreichen konnten, und selbst dann hätten wir wahrscheinlich nicht zurückgerufen. Bald wurde Pedja an die kroatische Front geschickt, um von dort zu berichten, wurde aber von kroatischen Soldaten verhaftet und gefoltert. Nachdem seine Freilassung ausgehandelt
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