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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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Krieg und Frieden brauchte, träumte ich regelmäßig von Bolkonski und Natascha.
    In meinen Zwanzigern neigte ich zu Depressionen und Angstzuständen. Ich empfand eine innere Leere. Im Gebirge wollte ich die inneren Batterien aufladen, den Sprachapparat, die Denkmaschine wieder ankurbeln. Mein Rückzug erfüllte meine Eltern jedoch mit Sorge, und meine Freunde hielten mich für verrückt. Nachts waren nur die Glocken und das Muhen der umherziehenden Kühe zu hören und der Wind, der über das Dach strich. Morgens wurde ich von aufgeregten Vögeln geweckt, und kaum hatte ich die Augen geöffnet, griff ich zu meiner Lektüre. Dieses einfache, asketische Leben – lesen, essen, wandern, schlafen – gefiel mir, es linderte die Schmerzen, die ich in mir trug.
    Im September 1991 fuhr ich zum letzten Mal in die Jahorina. Den größten Teil des Sommers hatte ich in der Ukraine verbracht, hatte das Ende der Sowjetunion miterlebt, die Anfänge einer unabhängigen Ukraine. Der Krieg in Kroatien hatte sich in dieser Zeit rasant weiterentwickelt – von Zwischenfällen zu Massakern, von einzelnen Gefechten bis zur vollständigen Zerstörung von Vukovar durch die jugoslawische Volksarmee. Als ich Ende August nach Sarajevo zurückkehrte, dachten die Menschen nur noch an Krieg – überall Angst, Verunsicherung und Drogen. Ich hatte kein Geld, woraufhin Pedja mir vorschlug, Texte für ein Pornomagazin zu schreiben, das er herausbringen wollte; er war überzeugt, dass sich die Leute darauf stürzen würden, um sich von der bevorstehenden Katastrophe abzulenken. Ich lehnte ab, weil ich, falls ich im Krieg ums Leben käme, als Letztes nicht ausgerechnet schlechte Pornographie geschrieben haben wollte (als gäbe es eine andere). Ich packte das Auto mit Büchern voll und fuhr hinauf in die Berge, um möglichst viel zu lesen und zu schreiben, bevor der Krieg alles zerstören würde.
    Ich blieb bis Dezember auf der Jahorina. Mein mönchisches Bergleben drehte sich nun um grundlegenden Selbstschutz, denn wenn der Krieg erst einmal in meinem Kopf war, so meine Sorge, würde er ihn plündern und in Brand setzen. Ich las den Zauberberg und Kafkas Briefe, ich schrieb verrückte Sachen voller Irrsinn, Tod und grotesker Wortspiele. Ich hörte Miles Davis, der in jenem Herbst starb, und starrte dabei in die Kaminglut. Auf meinen Bergwanderungen führte ich imaginäre Gespräche mit imaginären Partnern, fast wie Castorp und Settembrini. Ich hackte Holz, um meine Angst in Schach zu halten. Manchmal kletterte ich eine steile Bergwand hoch, einfach so, ungesichert. Ich sagte mir, wenn du es schaffst, heil oben anzukommen, wirst du auch den Krieg überleben. Zu meinen täglichen Ritualen gehörte es, abends um halb acht den Fernseher einzuschalten, die Nachrichten wurden immer schlimmer.
    Jahre später, in Chicago, machte ich Übungen, die mir helfen sollten, meine Wut in den Griff zu bekommen. Mein ewig grinsender Therapeut empfahl mir, meine Atmung wahrzunehmen und dabei einen Ort zu imaginieren, den ich mit Frieden und Sicherheit verband. Das war dann immer unsere Berghütte in der Jahorina, die ich mir in allen Einzelheiten vorstellte: die glatte Oberfläche des Holztischs, den mein Vater ohne einen einzigen Nagel gebaut hatte, die Skipässe, die unter der stummen Kuckucksuhr hingen, der unverwüstliche Kühlschrank, den die Eltern hinauftransportiert hatten und dessen Firmenname (Obod Cetinje) das erste Wort war, das ich selbstständig entziffert hatte. In den Therapiestunden erinnerte ich mich daran, wie das einsame Lesen meinem verwirrten Geist geholfen hatte, wie der Schmerz ein wenig gelindert wurde durch den Kieferngeruch, die klare Gebirgsluft und das besondere Licht am Morgen.
    Im Herbst 1991, gegen Ende meiner Zeit in der Jahorina, leistete Mek, unser junger Irish Setter, mir Gesellschaft. Morgens wurde er mit den Vögeln munter, leckte mir über Wangen und Stirn. Ich ließ ihn dann hinaus, damit er tun konnte, was junge Hunde in aller Herrgottsfrühe tun müssen, ging wieder ins Bett und las oder fiel wieder in einen Traum mit lauter Romanfiguren. Eines Morgens, nachdem ich Mek hinausgelassen hatte, hörte ich Schüsse. Ich schaute nach draußen und sah einen Trupp Militärpolizisten, an den weißen Gürteln leicht zu erkennen. Sie schossen mit Platzpatronen auf imaginäre Feinde, trugen Gasmasken, liefen an der Hütte vorbei bergauf. Mitten unter ihnen war Mek, der in jugendlichem Überschwang herumtollte und sie anbellte. Eine

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