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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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worden war, kehrte er zurück, um Jahre gealtert. Er hatte schlaflose Nächte und lief trübsinnig in unserer Wohnung herum, tagelang, mit starren Augen, ohne auf Dean Martin zu reagieren, und die Farbe seiner Blutergüsse verwandelte sich in ein fahles Gelb. Schließlich schnappte ich ihn mir, hielt ihm ein Tonbandgerät hin und zwang ihn, mir von seinen Erlebnissen auf dem kroatischen Kriegsschauplatz zu erzählen. Wie er idiotischerweise einen Bus mit kroatischen Freiwilligen bestiegen hatte, die Schläge, die man ihm verpasst hatte, die Haft und das sogenannte Verhör, die unsagbar demütigenden Böser-Cop - Guter-Cop Methoden (der gute Cop war Fan der Pet Shop Boys), die zerquetschten Eier und die Schläge in die Nieren, der Geschmack des Gewehrlaufs im Mund und so weiter. Als er fertig war, stellte ich das Aufnahmegerät ab, händigte ihm das 90-Minuten-Band aus und sagte: » Und jetzt pack das weg und schau nach vorn. « Ich fand mich damals furchtbar weise.
    Dabei wusste ich selbst nicht, wie es weitergehen sollte. Im Juli gab ich meinen Redakteursjob auf und fuhr für ein paar Wochen in die Ukraine, gerade rechtzeitig für den Putsch in Moskau im August, den Zusammenbruch der Sowjetunion und die anschließende Unabhängigkeit der Ukraine. Als ich Anfang September nach Sarajevo zurückkehrte, gab es die Zeitschrift nicht mehr. Pedja und Davor hatten unsere Wohnung in Kova ć i gekündigt und waren zu den Eltern zurückgekehrt, da wir die Miete nicht bezahlen konnten. Die Stadt lag am Boden, die Euphorie war verflogen. Eines Abends ging ich in das Olympic Museum Café, einen unserer alten Treffpunkte, und beobachtete, wie die Leute gläsernen Blicks vor sich hinstarrten, kaum miteinander sprachen, manche vollgedröhnt, andere wie gelähmt, alle beunruhigt, denn es war nicht mehr zu leugnen – es war aus. Der Krieg war gekommen, und nun warteten wir darauf, wer überleben, wer töten und wer sterben würde.

Der Zauberberg
    In der Jahorina, einem Gebirgszug dreißig Kilometer von Sarajevo entfernt, hatten wir eine Hütte. Als Teenager verbrachten Kristina und ich die Winterferien dort oben mit Skifahren und Partymachen, die Eltern kamen nur an den Wochenenden, um Lebensmittel und frische Wäsche zu bringen und nach dem Rechten zu sehen. Im Winter wimmelte es von Skifahrern, Touristen und Freunden, doch im Sommer war meist nichts los. Am Wochenende erschienen noch einige andere Hüttenbesitzer, die, wie meine Eltern, der Hitze in der Stadt entfliehen wollten. Kristina und ich blieben im Sommer lieber zu Hause, auch wenn die Eltern uns versicherten, dass die Jahorina, verglichen mit dem höllischen Sarajevo, der Himmel sei. Wir zogen es vor, ohne Eltern in der brütenden Hitze zu faulenzen.
    Aber irgendwann in den späten Achtzigern fing ich an, auch im Sommer ins Gebirge zu gehen. Ich packte meinen kleinen Fićo (die jugoslawische Variante des Fiat 500) mit Büchern und Musik voll und zog für vier Wochen auf die Jahorina. Ich war Mitte zwanzig und wohnte noch bei den Eltern, was, ganz abgesehen von Fragen der persönlichen Souveränität und Privatsphäre, halbwegs konzentriertes Lesen nahezu unmöglich machte. Meine Eltern verlangten rege Beteiligung am Familienleben und erteilten zeitraubende Aufträge. In der Berghütte dagegen war ich mein eigener Herr, ich konnte mir die Zeit selbst einteilen, las täglich acht bis zehn Stunden. Meine Mönchsklause verließ ich nur, wenn sich die Bedürfnisse meines dummen Körpers meldeten, der, neben Essen und Kaffee, auch nach Bewegung verlangte. Dann hackte ich Holz und machte gelegentlich Bergwanderungen oberhalb der Baumgrenze, hinauf in Karstlandschaften und auf Gipfel, von denen man einen weiten Blick über Bosnien hatte. Ich mied andere Leute und lief nur zu dem einsamen, mehrere Kilometer entfernten Supermarkt, um Nachschub an Zigaretten oder Wein zu besorgen.
    Schon Wochen vorher stellte ich meine Bücherliste zusammen – von Le Carré (den ich jeden Sommer aufs Neue las) bis zu Untersuchungen über die Ursprünge alttestamentarischer Mythen, von Anthologien moderner amerikanischer Short Storys bis zu Corto-Maltese-Comics. Zehn Stunden am Stück zu lesen hatte immer einen besonderen Effekt: Es versetzte mich in eine Art Trance, in der ich durchschnittlich vierhundert Seiten pro Tag schaffte. Das Buch verwandelte sich in einen großen Raum, in dem ich mich bewegte, selbst beim Essen, beim Wandern, beim Schlafen – ich bewohnte ihn. In der Woche, die ich für

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