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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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Platzpatrone aus nächster Nähe würde ihn bestimmt töten, also lief ich, im Pyjama und mit dem Buch in der Hand, den Militärpolizisten hinterher und rief nach Mek, der meine Rufe aber nicht hörte. Ich holte die Männer erst ein, als sie kurz stehenblieben, um zu verschnaufen. Sie rissen sich die Gasmasken herunter und keuchten, der Schweiß lief ihnen von der Stirn, während ich mich stammelnd für irgendetwas entschuldigte. Sie waren so erschöpft und in Gedanken so sehr bei ihrer Kriegsübung, dass sie nichts sagten. Ich kehrte wieder um, zerrte Mek am Halsband hinter mir her, während sie neue Positionen einnahmen, vielleicht sogar auf mich zielten.
    An einem anderen Morgen, Anfang Dezember, saß ich niedergeschlagen und verfroren da, trank lauwarmen Tee und war viel zu müde, um Feuer zu machen. Mek legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich starrte in den Nebel und fragte mich, was aus uns werden würde. Der unaufhaltsam näherrückende Krieg stürzte mich in eine solche Verzweiflung, dass ich weder lesen noch schreiben konnte. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch. In dem Moment klingelte das Telefon, zumindest habe ich es so in Erinnerung, und eine Frau vom amerikanischen Kulturzentrum sagte, die United States Information Agency habe mich zu einer Besuchsreise in die USA eingeladen. Im Sommer hatte ich mit dem Leiter des Kulturzentrums gesprochen, von meiner Bewerbung aber nichts erwartet und die Sache vergessen. Für einen kurzen Moment dachte ich sogar, dass sich jemand einen Scherz machte, aber als die Frau mich bat, bald vorbeizukommen, um die Einzelheiten meiner Reise zu regeln, sagte ich zu. Ich legte auf und machte Feuer. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Sarajevo.

Das Undenkbare geschieht
    Am 14. Oktober 1991 sprach Radovan Karad ž i ć vor dem bosnisch-herzegowinischen Parlament über das geplante Referendum über die Unabhängigkeit von Restjugoslawien, das nach der Sezession von Slowenien und Kroatien nur noch ein Torso war. Er warnte die Abgeordneten davor, den Slowenen und Kroaten auf ihrem » Weg in Hölle und Leid « zu folgen.
    Ich war zu der Zeit in der Jahorina, ich las und schrieb, um mich abzulenken. In den Abendnachrichten sah ich, wie Karad ž i ć die Abgeordneten anfuhr: » Glaubt nicht, ihr werdet Bosnien-Herzegowina vor dem Untergang und die muslimische Bevölkerung vor der möglichen Auslöschung bewahren, denn die Muslime können sich nicht verteidigen, falls es hier zu Krieg kommt. « Während seiner ganzen Tirade packte er, wie ich das von seinen Pressekonferenzen kannte, den Rand des Rednerpults, als wollte er es im nächsten Moment auf die verängstigten Zuhörer schleudern. Doch dann ließ er es los und stieß bei dem Wort Auslöschung mit dem Zeigefinger in die Luft. Präsident Alija Izetbegović, ein Muslim, war sichtlich nervös.
    Auf YouTube findet man mühelos ein grobkörniges Video von Karad ž i ć ’ Hasspredigt. Internet und Fernsehen können fast alles in ungefährliche Banalitäten verwandeln, aber bei seinem Auftritt gefriert einem noch immer das Blut in den Adern. Karad ž i ć war damals Präsident der ultranationalistischen Serbischen Demokratischen Partei, die bereits die mehrheitlich serbischen Teile Bosniens kontrollierte, aber er war kein Abgeordneter und bekleidete auch kein Staatsamt. Er war einfach da, weil er Macht hatte. Seine Anwesenheit ließ das Parlament schwach und bedeutungslos erscheinen. Gestützt von der Volksarmee, sprach er aus einer Position unangreifbarer Macht über Leben und Tod ebenjenes Volkes, dessen Vertreter in diesem Parlament saßen. Das wusste er, und es gefiel ihm.
    Ruhiggestellt durch wochenlange therapeutische Lektüre (Kafka, Thomas Mann), war mir nicht gleich klar, was Karadžić mit » Auslöschung « meinte. Ich suchte nach einer milderen, weniger bedrohlichen Interpretation – meinte er vielleicht » historische Bedeutungslosigkeit « ? Damit hätte ich mich anfreunden können, was immer damit gemeint sein mochte. Was Karad ž i ć sagte, lag jenseits meiner humanistischen, für Träume und Ängste empfänglichen Fantasie; seine Worte reichten weit über die Normalität hinaus, an der ich verzweifelt festhielt, während der sogenannte Alltag in Sarajevo immer mehr vom Krieg bedroht wurde.
    Letztlich entschied sich das Parlament für die Volksabstimmung, die im Februar 1992 stattfand. Die Serben boykottierten sie, die meisten Bosnier stimmten für die Unabhängigkeit. Im März wurden in Sarajevo Barrikaden

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