Das Buch mit dem Karfunkelstein
echten Stein hatte halten können. Nur die ovale Form hatte gestimmt, sonst nichts.
Er nahm ihn aus Anselms Hand und steckte ihn in die Fassung auf dem Buch zurück.
Verständnislos blickte Lambert von Anselm zu dem Stein.
»Aber ich dachte …«, stotterte er.
Der Abt blickte ihn zornig an. »Was dachtest du?«
Hannes antwortete für den fassungslosen Lambert.
»Er dachte, der Stein würde ihn unsichtbar machen.«
»Wie bitte?«, fragte der Abt ungläubig.
»Es ist eine alte Geschichte«, erzählte Jakob. »Die Geschichte vom …«
»Ja«, unterbrach Urban ihn, »die Geschichte vom Zeisig. Ich kenne sie. Aber …« Zum ersten Mal sah Paul, dass dem Abt vor Verblüffung die Worte fehlten. Doch er fasste sich.
»Ist der Bericht der Kinder richtig?«, fragte er Lambert.
Der Subprior zuckte zusammen und blickte den Abt verzweifelt an. Aber Urban ließ sich nicht erweichen.
»Ist es richtig, dass du das Buch gestohlen hast, um inden Besitz des Steins zu kommen? Ist es richtig, dass du den Oblaten Paul im Kapitelsaal vor allen deinen Mitbrüdern beschuldigt
hast, ein Dieb zu sein, obwohl er das nie war? Hast du weiterhin den Oblaten Paul geängstigt, indem du eine Botschaft schriebst
und ihn sogar verfolgtest?«
Die Stimme des Abtes war immer beißender geworden. Lambert stand mit kalkweißem Gesicht und hochgezogenen Schultern da, als
müsste er die Fragen wie Schläge abwehren. Aber er konnte sich nicht mehr herausreden. Langsam nickte er.
»Superbia!«,
donnerte der Abt, sodass auch die Kinder erschrocken zusammenfuhren.
» Superbia
und
Avaritia
! Hochmut und Habgier! Gleich zwei Todsünden hast du begangen. Und damit nicht genug! Wie kommst du dazu, ausgerechnet du,
auf ein Pergament den Satz
›Nihil mentire Paule‹
zu schreiben? Es ist gotteslästerlich, die Zehn Gebote zu missbrauchen.« Der Abt atmete tief durch, um seine Empörung zu beherrschen.
»Du weißt, wie das achte Gebot wirklich heißt?
Non loqueris contra proximum tuum falsum testimonium
. Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten! Warum tust du es dann?«
Aufgebracht blickte der Abt den Subprior an. Die Kinder warteten gespannt auf seine Antwort. Jetzt würden sie endlich den
Grund für den Diebstahl erfahren.
»Ich … ich dachte, der Stein könnte mir helfen«, sagte er verstört. »Ich dachte, wenn … wenn ich alles weiß, was hier im Kloster geschieht, und deshalb klug handelnkann, dann könnte ich eines Tages Prior werden und … und vielleicht sogar Abt.«
Paul blickte Lambert empört an. Der Mönch ging gnadenlos über andere hinweg, nur weil er in Klosterämtern aufsteigen wollte?
Das passte überhaupt nicht zu dem christlichen Leben, das er gewählt hatte!
»Besteht dein kluges Handeln darin, dich bei mir über deine Mitbrüder zu beschweren, wie du es mit Melchior versucht hast?«,
fragte der Abt schneidend. »Oder war der Stein nur als ein Hilfsmittel für deine Neugier gedacht?«
Lambert schüttelte unglücklich den Kopf.
Urban blickte ihn lange schweigend an. Dann sagte er ruhig: »Es ist mir nicht ganz klar, wie ein gebildeter Mensch einer Legende
glauben und einen Diebstahl begehen kann, um …«, es fiel ihm sichtlich schwer, das Wort auszusprechen,
» unsichtbar
zu werden. Besonders das zeugt von einer so sträflichen Einfalt, dass ich mich frage, ob du als Subprior geeignet bist. Morgen
früh werden wir deinen Fall im Kapitelsaal beraten. Du kannst gehen.«
Diesmal trat Anselm beiseite, um Lambert den Weg frei zu geben. Als er draußen war, seufzte Paul tief auf.
Urban sah ihn lächelnd an. »Wir haben dir eine schwere Zeit bereitet, und das, wo du dich gerade erst hier einlebst.«
Paul nickte sprachlos. Er staunte, wie freundlich die eisblauen, strengen Augen des Abtes blicken konnten.
»Hast du mit Bruder Gregor über deinen – sagen wir – außergewöhnlichen Aufenthalt im Skriptorium gesprochen?«
»Das hat er, Ehrwürdiger Vater«, antwortete eine Stimme vom Eingang.
Die Kinder fuhren herum. Gregor stand mit besorgtem Gesicht hinter ihnen. Er hatte erst Anselm und die Kinder ins Haus des
Abtes gehen sehen. Und dann Lambert, der mit rotem Kopf herauskam. Er vermutete, dass Paul seine Hilfe brauchte.
»Und es war eine so belanglose Sache, dass wir es unter uns klären konnten«, fügte er hinzu. »Es war letztlich ein Missverständnis
aus Unwissenheit.«
»Nun, so will ich es dabei belassen. Ich weiß den Oblaten bei dir in guten
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