Das Buch Ohne Gnade: Roman
schmollte sie. »Dann nehme ich Freddie Mercury. Sind Sie nun zufrieden?«
»Ja«, sagte Powell und lächelte zum ersten Mal. »Er war ziemlich gut, aber nicht hervorragend.« Er wandte sich an die andere Jurorin: »Lucinda, was ist mit Ihnen?«
Lucinda runzelte die Stirn und wälzte für einen Moment die Frage in ihrem Kopf hin und her. »Dieser Blues-Brother-Typ war gut«, sagte sie nachdenklich.
»Der Kerl mit der Mundharmonika? Und der roten Hose?« Candy konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Ja. Ich mag ihn. Er hatte etwas ganz Spezielles an sich.«
Powell verzog das Gesicht. »Tatsächlich? Mir kam er mit seiner Mundharmonika ziemlich armselig vor.«
»Jeder von uns sucht einen aus, oder etwa nicht? Ich habe den Blues Brother genannt und bleibe dabei.« Lucinda beharrte viel nachdrücklicher als Candy auf ihrer Entscheidung. Und Powell hatte keine Zeit für lange Diskussionen.
»Fein«, sagte er. »Damit haben wir vier Finalisten. Und wen soll ich nehmen?« Er trommelte mit den Fingern für ein paar Sekunden auf der Schreibtischplatte, während er in Gedanken alle Sänger und Sängerinnen durchging, die er im Laufe des Tages auf der Bühne erlebt hatte.
»Sie haben ja noch nicht einmal die Hälfte aller Bewerber gesehen«, sagte Lucinda. Sie hatte Recht. Sein ständiges Rein und Raus während des Vorsingens hatte zur Folge gehabt, dass ihm die Auftritte zahlreicher Konkurrenten entgangen waren.
»Richtig. Und jeder, den ich sah, war einfach nur schrecklich.« Plötzlich schoss ihm ein Name durch den Kopf. »Ich weiß es. Während ich für einige Zeit in der Lobby war, hörte ich, wie begeistert das Publikum auf ein Janis-Joplin-Double reagierte. Mir kam es so vor, als sei sie für die Leute so etwas wie der Höhepunkt der gesamten Show gewesen. Ich glaube, ich nominiere sie.«
Lucinda und Candy waren beide entgeistert. Lucinda ergriff für sie beide das Wort: »Sie haben sie doch überhaupt nicht live erlebt!«
»Ach, ist das so wichtig? Judy Garland hat diesen Wettbewerb sowieso schon gewonnen. Niemand wird sie schlagen können.Außerdem denke ich, dass es ganz gut wäre, eine weitere Frau im Finale zu haben.«
»Ja, aber glauben Sie mir, diese Frau ist es ganz sicher nicht«, protestierte Lucinda.
»Das reicht jetzt«, sagte Powell und winkte ab. »Jeder hatte eine Wahl und meine Favoritin ist Janis.«
»Aber …«
»Kein Aber, verdammt noch mal!«, brüllte er beinahe, ehe er mit ruhigerer Stimme fortfuhr: »Das wär’s dann wohl. Gehen wir raus und verkünden es dem Publikum. Weiß Gott, diese Show dauert schon viel länger als geplant. Ich muss noch einige Telefonate führen. Sie beide können Nina Bescheid sagen, wen wir für das Finale ausgewählt haben. Los. Nun gehen Sie schon. Und machen Sie auf dem Weg nach draußen die Tür hinter sich zu.«
Lucinda und Candy erhoben sich von ihren Plätzen. Während sie zur Tür gingen, versuchte Lucinda es mit einer letzten Bitte. »Nigel, diese Janis Joplin – Sie können doch nicht im Ernst …«
»Doch, ich kann. Verdammt noch mal. Und jetzt raus, ihr beiden!«
NEUNUNDDREISSIG ♦
Emily schlug die Augen auf. Sie sah alles verschwommen und ihre Augen brannten. Außerdem war da ein schmerzhaftes Pochen vorne an ihrer Stirn. Sie lag in einem Bett und blickte zur Zimmerdecke. Sie konnte getrocknete Tränen auf ihrem Gesicht spüren, aber sie konnte sich nicht entsinnen, geweint zu haben, oder sich daran erinnern, weshalb ihr Kopf schmerzte. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn und fragte sich, ob sie wirklich so stark angeschwollen war, wie sie sich anfühlte.
Irgendwo in ihrer Nähe erklang eine Stimme so rau wie Rollsplitt. »Wie geht es Ihnen?«
Der Laut erschreckte sie, und sie setzte sich kerzengerade auf. Das bereute sie sofort. Das Pochen in ihrem Kopf wurde intensiver. Am Ende des Bettes, in dem sie lag, saß ein Mann. Und soweit sie erkennen konnte, befand sie sich nicht mehr in dem Zimmer, in dem Nigel Powell sie untergebracht hatte. Sie ließ den Blick umherschweifen, um sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen. Die schnelle Augenbewegung verstärkte ihre Kopfschmerzen. Sie befand sich tatsächlich in einem anderen Hotelzimmer. Es ähnelte dem, das Nigel Powell ihr zugewiesen hatte, nur war dieses Zimmer ein wenig kleiner und darin stand ein Einzelbett anstatt eines Doppelbettes. Und der unheimliche Mann in Schwarz, der sich früher an diesem Tag ihr gegenüber so unverschämt verhalten hatte,
Weitere Kostenlose Bücher