Das Buch Ohne Gnade: Roman
Apostel sein? Er wirkte ein wenig gereizt und musterte misstrauisch all die anderen Mitbewerber. Irgendwann trafen sich seine und Sanchez’ Blicke. Julius lächelte und nickte ihm und Elvis zu, wahrscheinlich weil sie Freunde Gabriels waren. Sanchez nickte höflich zurück. Es hatte wenig Sinn, einen von Gottes Lieblingen zu verärgern. Er könnte am Tag des Jüngsten Gerichts ein nützlicher Verbündeter sein. Ob ihm klar war, dass Sanchez wusste, wer er war?
Das brachte den Barbesitzer zum Nachdenken. Wäre Julius’ James-Brown-Nummer gut genug, um ihm den Sieg zu sichern? Und was war mit Judy Garland? Hatte Gabriel – oder der andere Profikiller, Angus – sie erfolgreich aus dem Wettbewerb entfernt? Wenn nun ihr Name aufgerufen wurde und sie nicht erschien, weil sie mittlerweile tot war? Und wer wären die anderen Finalteilnehmer, da zumindest drei, mittlerweile vielleicht sogar vier, von der ursprünglichen Teilnehmerliste nicht mehr am Leben waren?
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Elvis auf den Füßen auf und ab federte und dabei ein wenig einem Boxer ähnelte, der sich für einen Kampf aufwärmte. Mit einiger Mühe verdrängte Sanchez seine düsteren Gedanken und begann seinen Freund aufzumuntern, indem er meinte, dass seine Teilnahme am Finale wohl selbstverständlich sei. Auch wenn Elvis es nicht nötig hatte, dass jemand sein Selbstvertrauen stärkte, war er wahrscheinlich dankbar für diese Unterstützung.
»Hey, Mann, was machst du, wenn du für das Finale ausgesucht wirst, hm?«, fragte Sanchez. »Ich meine, wenn du es schaffst und James Brown auf der Strecke bleibt?«
Elvis beobachtete das James-Brown-Double genauso aufmerksam wie Sanchez kurz vorher. Er beantwortete Sanchez’ Frage, ohne den Blick vom Godfather of Soul in seinem violetten Anzug abzuwenden.
»Ich bin mir verdammt sicher, dass er es schaffen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott uns heil durch die letzten vierundzwanzig Stunden gebracht hat, nur damit sein Apostel sich nicht für das Finale qualifiziert.«
»Hoffentlich hast du Recht.«
»Ich habe Recht.«
»Wo ist dann Gabriel? Meinst du, er ist gerade dabei, Judy Garland kaltzumachen?«
»Nun, das würde wohl erklären, weshalb sie nicht hier ist.« Elvis schien völlig unbesorgt zu sein.
Sanchez ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen. Die Judy-Garland-Imitatorin hatte nichts falsch gemacht, soweit er es beurteilen konnte. Und sie hatte ihn früher am Tag hinter der Bühne angelächelt und Hallo zu ihm gesagt. Das hatte keiner der anderen ach so tollen Bastarde getan. Möchtegernstars , dachte er. Die krochen sich doch alle selbst in den Arsch. Bislang schien sie die Einzige zu sein, die sich nicht an sich selbst berauschte. Obgleich Sanchez Gabriel mochte und ihm einiges an Dank schuldete, weil er ihn vor den Zombies in der Wüste gerettet hatte, störte ihn die Vorstellung, dass sein neuer Freund möglicherweise zurzeit irgendwo im Hotel eine unschuldige junge Frau kaltblütig ermordete. Zumal eine, die ihn mit einem Ausdruck aufrichtiger Freundlichkeit angelächelt hatte. Das machten noch nicht einmal seine Freunde.
Er dachte darüber nach, wie unangenehm die ganze Situation war, als ein Sicherheitswachmann zu ihm herüberkam und ihn höflich aufforderte, den Bereich hinter der Bühne zu verlassen.Nachdem er Elvis zum letzten Mal viel Glück gewünscht hatte, begab sich Sanchez eilig zur Bühnenseite, wo er geschützt durch einen der roten Vorhänge, die im Augenblick noch geschlossen waren und die Bühne verhüllten, das Geschehen verfolgen konnte. Er hatte kaum seinen Beobachtungsplatz erreicht, als der hintere Bühnenbereich sich verdunkelte und ein anschwellender Trommelwirbel aus dem Lautsprechersystem drang. Kurz darauf erklang die elektrisch verstärkte Stimme der Präsentatorin der Show, Nina Forina.
»Ladys und Gentlemen«, sagte sie in einem dramatischen Tonfall, »bitte begrüßen Sie mit lautem Applaus – unsere Jury.«
In diesem Moment rauschten die Vorhänge auseinander und ein Punktstrahler erhellte die Bühne und fing die drei Juroren mit seinem Lichtkegel ein. Sanchez konnte sich hinter dem Vorhang verborgen halten. Er hatte von dort aus eine perfekte Sicht auf die Vorgänge auf der Bühne. Das Einzige, was er vermisste, waren sein gemütlicher Sessel, eine Tüte Popcorn und ein paar Flaschen Bier.
Die drei Juroren standen in der Bühnenmitte und badeten im Applaus des Publikums vor ihnen. Nachdem sie sich lange
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