Das Buch Ohne Gnade: Roman
Unbehagliches Schweigen senkte sich auf das Publikum herab. Sanchez fand ein wenig Trost in der Erkenntnis, dass er nicht der Einzige war, der sich gelegentlich mit einem faden Witz blamierte.
Er ließ den Blick durch den Saal schweifen und wartete gespannt, ob Judy Garland nicht doch noch auf der Bühne erschien. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Julius in einer Siegesgeste die Hand vor der Brust zur Faust ballte. Gabriel musste seinen Auftrag ausgeführt haben. Judy Garland würde nicht am Finale teilnehmen. Sanchez fühlte sich deswegen ein wenig schuldig. Ihr Nichterscheinen ließ darauf schließen, dass sie so gut wie sicher brutal ermordet worden war, damit ein Kerl, der sich als dreizehnter Apostel ausgab, einen Haufen anderer Leute, Sanchez inklusive, retten konnte. Natürlich war es hart, aber im besten Interesse aller Anwesenden, dachte der Barbesitzer salbungsvoll.
Für ein paar Minuten herrschte allgemeine Verwirrung, während die Jury überlegte, was zu tun sei. Angehörige des Sicherheitsdienstes wurden losgeschickt, um in den Fluren nachzuschauen, ob Miss Garland zum Konzertsaal unterwegs war. Während die Sekunden verstrichen und sie sich noch immer nicht blicken ließ, wurde das Publikum allmählich unruhig. Ein paar Plastikbecher wurden in Richtung Bühne geworfen. Die Wachmänner sprachen angespannt in ihre Walkie-Talkies, während sie durch die Korridore eilten. Die Show drohte in einem Desaster zu enden. Nach und nach kamen die Wachmänner zurück und schüttelten die Köpfe als Zeichen, dass die Nummer fünf des Finales nirgendwo zu finden sei.
Nigel Powell musste schnell reagieren und sich etwas einfallen lassen, aber das war offensichtlich etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und das wusste er. Von seinem Platz in der Mitte des Jurorentisches bat er die Zuschauer mit einer Geste,die vielfach vergrößert auf dem Bildschirm auf der Bühne zu beobachten war, sich zu beruhigen.
»Okay, Ladys und Gentlemen, es scheint, als sei Dorothy irgendwo auf dem gelben Ziegelsteinweg verschüttgegangen!«
Das Publikum quittierte diese Bemerkung mit einem herzlichen Gelächter, obgleich der Scherz kein Deut besser war als Ninas vorangegangener Versuch. Als das Gelächter verstummte, fuhr er fort: »Deshalb werden wir jetzt den sechstbesten Interpreten der Vorrunde benennen. Halten Sie sich bereit, um einen Interpreten zu begrüßen, der uns alle mit seinem musikalischen Talent überrascht haben dürfte. Ladys und Gentlemen, der fünfte Finalteilnehmer ist … Elvis Presley! «
Elvis stolzierte mit der selbstsicheren Haltung eines Mannes, für den die Teilnahme am Finale niemals in Frage gestanden hatte, nach vorne an den Bühnenrand. Er verteilte Kusshändchen und winkte dem Publikum. Nachdem er Nina Forina geküsst und ihr fachmännisch prüfend an den Hintern gefasst hatte, schlenderte er zu den anderen Finalisten hinüber. Er schaute zu Sanchez und stieß triumphierend beide Daumen in die Höhe, während er sich am Ende der Reihe neben Julius aufstellte.
Nina, die nach Elvis’ ungehörigem – wenn auch nicht völlig unwillkommenem – Griff an ihren Bürzel errötete, hob das Mikrofon an die Lippen und winkte der Menge zu, sie solle wenigstens für einen Moment still sein.
»Okay, Leute«, rief sie. »Wir haben jetzt die fünf Teilnehmer am Finale. Spenden wir allen noch eine weitere Runde Applaus!«
Die Menge sprang auf, gab laute Jubelrufe von sich, trampelte mit den Füßen und klatschte in die Hände. Nach ein paar Sekunden Beifall hörte Sanchez jedoch, wie der Lärm der Zuschauer um einige Dezibel lauter wurde. Zuerst fragte er sich, ob jemand auf der Bühne umgefallen war, denn es klang, als hätte das Publikum sämtliche Hemmungen verloren und sich in eine blinde Raserei hineingesteigert. Er verrenkte sich fast den Hals und drehte den Kopf hin und her in der Hoffnung, nochetwas von dem peinlichen Sturz mitzubekommen. Er wäre zutiefst enttäuscht, wenn ihm etwas Derartiges entginge. Es gab nichts, das Sanchez mehr liebte, als mit ansehen zu können, wie Leute über irgendetwas stolperten und auf die Nase fielen.
Dann gewahrte er den Grund für den verstärkten Jubel.
Wie aus dem Nichts war Judy Garland auf die Bühne geeilt. Sie wirkte ein wenig durcheinander, aber mit jedem Schritt, den sie in Nina Forinas Richtung zurücklegte, und mit jedem anfeuernden Ruf des Publikums gewann sie mehr und mehr die Kontrolle über sich zurück. Diese junge Frau war zweifellos der Liebling
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