Das Buch Ohne Gnade: Roman
des Publikums und dem breiten, strahlenden Lächeln auf Powells Gesicht nach zu urteilen war sie auch sein Liebling. Er erhob sich von seinem Platz und gab den Zuschauern abermals ein Zeichen, still zu sein. Als die Leute sich beruhigt hatten, ließ er sie noch ein wenig länger warten, ehe er die Ansage machte, die sie sich alle wünschten.
»Okay, Leute. Wer hat ein Problem damit, dass wir in diesem Jahr sechs Finalteilnehmer haben?«
Das Publikum raste. Die begeisterten Schreie waren ohrenbetäubend. Sanchez schaute zu Elvis hinüber. Elvis erwiderte seinen Blick stirnrunzelnd und mit einem Ausdruck tiefer Sorge, die seine Miene verdüsterte. Julius’ Chancen, mit seiner James-Brown-Nummer die Siegerkrone zu erringen, waren soeben schlagartig fast ins Bodenlose gesunken.
Und was war mit Gabriel geschehen?
EINUNDVIERZIG ♦
Emily war beängstigend dicht davor gewesen, es nicht rechtzeitig auf die Bühne zu schaffen. Sie musste dem Bourbon Kid dankbar sein, vermutete sie. Er hatte ihr schließlich das Leben gerettet. (Na schön, Gabriels Waffe war nicht geladen gewesen. Aber er hätte sie damit totschlagen können. Oder sie erwürgen können. Oder … Wenn nötig, fand Emily für alles ein überzeugendes Argument.) Und er hatte sie nicht getötet, weil sie sich ihm ganz offen widersetzt hatte. Als er in seine Jacke gegriffen hatte, war sie fast sicher gewesen, dass er eine Pistole herausholen würde. Stattdessen hatte er plötzlich eine Schachtel Zigaretten in der Hand gehabt. Wahrscheinlich war er fähig, jemanden mit einer Zigarette umzubringen, hatte es jedoch in ihrem Fall nicht getan. Was sie unendlich erleichterte. Egal wie man es betrachtete, er war dafür berüchtigt, Menschen aus ziemlich trivialen Anlässen zu töten. Wegen nichts , zum Beispiel.
Während sie auf der Bühne stand und über all das nachdachte, was geschehen war, wurde ihr bewusst, dass Julius sie anstarrte. Sie schaute zu ihm hinüber, nickte ihm zu und lächelte unsicher. Er musterte sie neugierig, ehe er sich mit einem knappen und heuchlerischen Lächeln revanchierte. Wenn das, was der Kid ihr erzählt hatte, zutraf, dann hatte Julius erwartet, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Kein Wunder, dass er sie so seltsam ansah. Emily fröstelte. Sie fühlte sich nicht sicher. Es gab nur eine Person, die ihr helfen konnte. Nigel Powell.
Während nach Bekanntgabe der Finalteilnehmer alle die Bühneverließen, ging Emily zögernd zum Jurytisch. Eine zwanzigminütige Pause war angesagt worden. Zahlreiche Zuschauer hatten sich von ihren Sitzplätzen erhoben und waren hinausgegangen, um sich die Beine zu vertreten. Powells Kolleginnen, Lucinda und Candy, hatte ebenfalls ihre Plätze verlassen und waren verschwunden, wodurch sich für Emily die perfekte Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch mit Powell ergab.
Er lächelte sie an, als er sie auf sich zukommen sah. »Hallo, Emily«, sagte er und kam auf die Füße. Man konnte über Nigel Powell sagen, was man wollte, aber er hatte gute Manieren. Wenn es ihm dienlich war. »Ich dachte schon für eine Minute, dass Sie es nicht schaffen würden. Das war ziemlich knapp. Nicht wahr?«
»Ja. Das tut mir schrecklich leid. Eigentlich muss ich mit Ihnen darüber reden. Können wir uns kurz unterhalten?«
»Na klar. Setzen Sie sich.« Er deutete auf den Stuhl rechts neben ihm und setzte sich, nachdem sie Platz genommen hatte, ebenfalls. »Was kann ich für Sie tun?«
Emily rutschte auf dem Stuhl hin und her; er war noch warm. »Ich habe Kopfschmerzen.«
»Das tut mir leid. Soll ich Ihnen Schmerztabletten besorgen?«
»Jemand hat mir mit einer Pistole eins über den Schädel gegeben.« Sie wusste, dass dies eigentlich nicht ganz den Tatsachen entsprach. Aber es war kürzer, als jede Einzelheit zu schildern.
»Was meinen Sie?«
»Eine Pistole. Ein Mann ist in das Zimmer eingebrochen, in das Sie mich haben umziehen lassen. Er erschoss Ihre beiden Wachmänner und versuchte anschließend, mich zu töten.«
Powells Miene spiegelte seinen tiefen Schock wider. »O mein Gott. Fangen Sie ganz von vorne an. Wer hat versucht, Sie zu töten?«
»Er war so ein Motorradrocker namens Gabriel. Kahl rasierter Schädel und Arme wie Baumstämme.«
»Heiliger Jesus. Wo ist er jetzt?«
»Er ist tot. Seine Leiche liegt immer noch im Zimmer zusammen mit den beiden Wachmännern.«
»Er ist tot? Wer hat ihn getötet? Sie etwa?«
»Nein. Ein Typ, der der Bourbon Kid genannt wird. Er hat mich gerettet.
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