Das Buch Ohne Gnade: Roman
Überwachungskameras gefilmt zu werden. Das wäre nicht so einfach für jemanden, der in einem violetten Anzug mit weit ausgestellten Hosenbeinen herumlief. Um seine Chancen, unentdeckt zu bleiben, zu erhöhen, hatte er die schwarze Perücke abgenommen und vorne in sein Hemd gestopft. Einige Haarbüschel schauten heraus und erzeugten den Eindruck, als hätte er die haarigste Brust der Welt.
Sobald er das Kasino betreten hatte, hielt er Ausschau nach dem Bereich, wo das dichteste Gedränge herrschte, um sich dort unter die Gäste zu mischen. Ein Roulettetisch hob sich deutlich von den anderen ab. Er war von einer Schar Neugieriger umlagert, die jede Menge Lärm verursachten. Er eilte dorthin und drängte sich zwischen die Leute.
»Was ist hier los?«, fragte er eine zierliche Chinesin, die ein blaues Auge hatte.
»Die Mystische Lady. Sie hat bereits einige tausend Dollar gewonnen«, erwiderte die Frau.
»Die Mystische Lady?«
»Ja, ja. Die Mystische Lady.« Die Chinesin nickte heftig und deutete auf eine ältere grauhaarige Frau, die am Roulettetisch saß. Sie schien die einzige Person zu sein, die spielte, aber sie hatte einen Berg Chips vor sich liegen und die Augen aller waren auf sie gerichtet. »Sie kann in die Zukunft blicken. Große Beträge setzen. Und Riesengewinne einstreichen.«
Julius schlängelte sich durch das Gedränge, bis er dicht hinter dieser Mystischen Lady stand. Sie hatte soeben einen Stapel gelber Chips auf Rot gesetzt. Die Zuschauer verstummten, während der ziemlich niedergeschlagen dreinblickende Croupier das Rad in Rotation versetzte. Sobald es eine Drehung vollendet hatte, machte er einen tiefen Atemzug, nickte der Mystischen Lady zu und schnippte dann mit einer geschickten Handbewegung die kleine weiße Kugel entgegen dem Uhrzeigersinn in den Kessel. Julius beugte sich über ihre Schulter, um zu sehen, wo sie landete. Jedermann schien den Atem anzuhalten, sodass sie alle das Klappern der Kugel hören konnten, als sie durch den Kessel rollte. Schließlich verlangsamte sich die Drehung des Rades und die Kugel fiel in eins der mit zahlen versehenen Fächer. Als das Rad sich langsam genug drehte, um etwas erkennen zu können, ging ein Seufzer durch die Schar der Neugierigen und steigerte sich zu lautem Beifall, während der Croupier traurig verkündete: »Rot, Nummer zwölf!« Die Kugel war im Fach mit der Nummer zwölf, das zufälligerweise rot war, zur Ruhe gekommen – genauso wie die Mystische Lady es vorhergesagt hatte.
Während der Croupier weitere Chips über den Tisch zu ihr hinüberschob, drehte die alte Frau sich auf ihrem Hocker um und blickte Julius direkt in die Augen. Einige Sekunden lang musterte sie ihn aufmerksam. Er hatte keine Ahnung, weshalb sie ihn ansah, doch er entschloss sich, das Schweigen zu brechen.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er leise, um ihren Erfolg angemessen zu würdigen.
»Julius?«
Er war geschockt, dass sie seinen Namen kannte, weil er sich nicht entsinnen konnte, jemals mit ihr zusammengetroffen zu sein. Vielleicht verfügte sie tatsächlich über übersinnliche Fähigkeiten und konnte in die Zukunft blicken, wie die Chinesin mit dem blauen Auge behauptet hatte.
»Ja. Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte er.
»Sie kommen Sie holen.«
»Was? Wer?«
»Sie.« Die Mystische Lady deutete mit dem Kopf zum Kasinoeingang hinter Julius. Er wandte sich um. Vier kräftige Männer in schwarzen Uniformen waren die Treppe aus dem Hotel heruntergekommen und schauten sich suchend im Kasino um. Es war offensichtlich, dass sie Angehörige des Sicherheitsdienstes waren. Sie mussten ihn über das Überwachungssystem entdeckt haben. Jetzt war schnellstes Verschwinden angesagt, ehe sie ihn in der Gästeschar entdeckten. Er wandte sich wieder der Mystischen Lady zu, um in Erfahrung zu bringen, ob sie wusste, was ihm sonst noch blühte.
»Was tue ich?«
»Sie sind ein James-Brown-Imitator.«
»Nein! Nicht was ich mache . Ich meine, was soll ich jetzt tun? Wie komme ich hier raus?«
»Es gibt Treppen, Fahrstühle. Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben«, fügte sie schnippisch hinzu, »muss ich weiter Roulette spielen.« Damit drehte sie sich auf ihrem Hocker wieder zum Roulettetisch um.
Julius hielt Ausschau nach einem Ausgang. Die Mystische Lady hatte Recht. Treppen oder Fahrstühle. Die vier Wachmänner standen immer noch im Kasinoeingang, der wiederum nur wenige Schritte von der Treppe entfernt war, wodurch dieser Weg für ihn versperrt war. Er
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