Das Buch Ohne Gnade: Roman
Moment ein wenig länger als notwendig ausgekostet hatte, zog sie schließlich die Karte vollständig heraus. Emily verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, einen ausgiebigen Blick darauf zu werfen. Nina war jedoch nicht auf den Kopf gefallen. Wie ein Pokerspieler hielt sie die Karte dicht vor ihrer Brust und blickte auf das Ergebnis. Nach einem längeren Moment weiteten sich ihre Augen. Da ihr Gesicht auf dem großen Bildschirm hinter ihr über der Bühne für jeden zu sehen war, konnte auch jeder ihren Ausdruck erkennen. Sie stieß einen leisen Seufzer hervor und legte die Hand auf die Brust, als verschlüge ihr der Schock über das, was sie gesehen hatte, kurzzeitig den Atem. Emily fragte sich, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Vielleicht war das Ergebnis eine Riesenüberraschung, und da sie als Favoritin galt, war das kein gutes Zeichen. Andererseits konnte die Ansagerin der Show ihren Schock auch nur gespielt haben, um das Publikum im Unklaren zu lassen. So oder so hatte Emily das Gefühl, nie wieder richtig atmen zu können.
Weitere Schreie und Rufe des unruhigen und mittlerweile über die Maßen erregten Mobs folgten, und nachdem sie den Zuschauern gestenreich bedeutet hatte, sie sollten sich beruhigen, räusperte Nina sich.
»Ladys und Gentlemen, das Ergebnis des Back-From-The-Dead -Gesangswettbewerbs lautet wie folgt: Auf dem sechsten Platz liegt … Freddie Mercury .«
Überraschte Seufzer kamen vom Publikum. Obgleich er nicht zu den Siegesaspiranten gehörte, hatten die meisten Zuschauer erwartet, dass er zumindest einen besseren Platz als den sechsten belegen würde. Freddie betrat die Bühne und winkte denZuschauern, die ihm laut Beifall klatschten. Hinter sich hörte Emily jemanden – der sich frappierend wie Sanchez anhörte – etwas murmeln, das klang wie: »Geschieht dem Bastard recht. Arrogantes Arschloch.«
Freddie ging zu Nina hinüber, küsste sie auf die Wange und nahm seinen Platz auf dem leicht ansteigenden hinteren Teil der Bühne ein. Teils aus Höflichkeit, teils aus Enttäuschung quittierten die Zuschauer die Entscheidung mit reichlichem Applaus. Aber eigentlich wollten sie, genauso wie Emily, nur die Namen der ersten fünf und vor allem den Namen des Siegers erfahren. Einige Zuschauer riefen laut die Namen ihrer Lieblingssänger, um sie zu unterstützen. Nina wartete, bis sie verstummt waren, ehe sie mit der Bekanntgabe der Ergebnisse fortfuhr.
»Ladys und Gentlemen, ich bitte um Applaus für den Konkurrenten, der es auf den fünften Platz geschafft hat.« Sie blickte auf die Karte, die sie in der Hand hielt. Emily war überzeugt, dass sie die Karte eigentlich gar nicht hätte zurate ziehen müssen, aber so schaffte sie es, das Publikum noch für einige weitere Sekunden auf die Folter zu spannen. Dann verkündete sie laut: »Und es ist … Janis Joplin !«
Die Menge johlte, klatschte und brüllte ihre Lieblingsschimpfworte, während eine leicht enttäuschte Janis auf die Bühne kam. Sie winkte höflich den Zuschauern, küsste Nina auf die Wange, bedachte das Publikum mit einem zornigen »Arschlöcher!« und nahm anschließend auf dem rückwärtigen Teil der Bühne ihren Platz neben Freddie Mercury ein.
Abermals verfiel das Publikum in ein erwartungsvolles Schweigen. Bei den Angehörigen der kleinen Gruppe auf der Bühnenseite war die Anspannung beinahe unerträglich. Emily beobachtete verstohlen, wie die restlichen Finalisten damit zurechtkamen. Julius wischte sich die verschwitzten Hände an seinem Anzug ab. Warum war er immer noch da? Nigel Powell hatte versprochen, ihn hinauswerfen zu lassen. Irgendwie hatte er das zu verhindern gewusst, und Powell hatte offensichtlich entschieden, ihn nichtaus dem Wettbewerb auszuschließen. Sie fragte sich, was er damit bezweckte.
Der Blues Brother, Jacko, verriet wenig von dem, was in ihm vorging, weil seine Augen hinter den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille verborgen waren. Elvis wirkte trotz seines zur Schau getragenen Selbstbewusstseins ein wenig unruhig, wie Emily meinte. Sein Mund bewegte sich, als bearbeitete er mit den zähnen einen imaginären Kaugummi. Die einzige Person auf der Seitenbühne, die sich kaum für die Ergebnisse interessierte, war Sanchez. Er gaffte Candy Perez an. Irgendjemand hinter der Bühne hatte gemeint, dass ihre Titten höchstwahrscheinlich »wieder« herausfallen würden. Er war sich nicht sicher, was mit diesem »wieder« gemeint war, wenn aber nur der Hauch einer Chance bestand, dass Candys beste
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