Das Buch Ohne Gnade: Roman
Jeder in der Lobby verfolgte gebannt, wie das Trio zum zweiten Empfangspult ging und hinter Annabel stehen blieb.
»Miss de Frugyn?«, fragte Powell höflich mit tiefer, wohlklingender Stimme.
Annabels Körpersprache verriet, dass sie annahm, mit einer gestohlenen Kreditkarte erwischt worden zu sein – was nicht vollkommen unwahrscheinlich gewesen wäre. Sie wandte sich langsam zu dem Manager und seinen beiden Gorillas um.
»Ja«, zwitscherte sie nervös. »Was kann ich für Sie tun?«
»Miss de Frugyn, mein Name ist Nigel Powell. Ich habe die Ehre, der Eigentümer und Manager dieses Hotels zu sein. Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Na ja – sicher.« Ihre Körpersprache signalisierte jetzt das erschrockene Kaninchen.
Powell ergriff Annabels Hand und schüttelte sie höflich.»Meine Mitarbeiter werden Ihre Sachen auf Ihr Zimmer bringen. Bitte kommen Sie hier entlang.«
Sanchez und Elvis beobachteten, wie der Multimillionär Annabel durch eine doppelte Glastür auf der rechten Seite der runden Lobby geleitete. Was sie nicht wussten, war, dass er mit ihr einen privaten Teil des Hotels aufsuchte.
»War das die Mystische Lady?«, wollte Elvis von Sanchez wissen.
»Ja. Hab im Flugzeug und in dem verdammten Bus direkt neben ihr gesessen. Verdammt lästige alte Schachtel«, murmelte Sanchez.
»Hab gehört, dass sie gut darin ist, irgendwelchen Scheiß vorauszusagen.«
»Quatsch. Sie ist gut darin, jede Menge Scheiß zu labern.«
»Nein, Mann. Ich denke, sie kann wahrscheinlich vorhersagen, wer diese Show gewinnen wird.«
»Du machst dir wohl Riesenhoffnungen«, sagte Sanchez spöttisch.
Elvis lächelte. »Du spielst doch auch gerne, nicht wahr, Sanchez?«
»Ja. Warum?«
»Nun, an diesem Wochenende ist hier mehr als nur ein Gesangswettbewerb im Gange. Im Parterre gibt es auch ein Spielkasino. Schätze, dass es durchaus nützlich sein könnte, die alte Lady an seiner Seite zu haben.«
Sanchez ließ sich die Worte des legendären Berufskillers durch den Kopf gehen. Die Mystische Lady könnte tatsächlich in einem Kasino eine nützliche Verbündete sein. Außer wenn das Management von ihren angeblichen Fähigkeiten wusste und sie hier nicht duldete.
Könnte das der Grund sein, weshalb sie vom Hotelbesitzer hinauskomplimentiert worden war?
SECHS ♦
Emily war nicht gerade begeistert darüber, sich die Garderobe mit vier Männern zu teilen. Doch sie sagte sich immer wieder, dass sie es nur für einen Tag ertragen müsste und die Belohnung am Ende wahrscheinlich ihr Leben von Grund auf verändern würde.
Sie war einer der fünf Gesangskünstler, die Nigel Powell, oberster Juror des Back-From-The-Dead -Gesangswettbewerbs, bereits als Finalisten ausgewählt hatte. Emily verspürte ein leichtes Unbehagen, dass das öffentliche Vorsingen noch nicht stattgefunden hatte und dass alle anderen hoffnungsvollen Kandidaten, die nach und nach im Hotel eintrudelten, keine Ahnung hatten, dass die fünf Finalisten längst feststanden. Aber dann dachte sie an all die Bumslokale, in denen sie hatte auftreten müssen, an all die harten Jahre und daran, was dies für sie und ihre Mutter bedeutete. Denn Tatsache war Folgendes: Sie waren die fünf Finalisten, weil sie die besten Tribute-Acts der Clubszene waren. Also, was war schon schlimm daran, wenn die ganze Show ein abgekartetes Spiel war? Traf das heutzutage nicht auf alles zu? Jedenfalls beruhigte sie damit ihr Gewissen.
Außerdem war es ja nicht so, dass sie bereits gewonnen hatte. Sie musste immer noch die anderen vier besiegen.
Die fünf Wettbewerber saßen in einer Reihe an eigenen Schminktischen, jeder mit einem eigenen Spiegel ausgestattet, der durch kleine Glühbirnen an den Seiten und oben beleuchtet wurde. Die Garderobe war mit ihren zehn Metern Längeund etwa drei Metern Breite ziemlich eng. Die Wände wie auch die Tische waren in einem beruhigenden Pink gehalten. Emilys Tisch war der einzige, auf dem Schminkutensilien standen. Sie hatte einige Zeit darauf verwendet, genau so auszusehen, wie es ihr vorschwebte, während die Männer die meiste Zeit nur untätig herumgesessen und sich an allen möglichen Stellen gekratzt hatten. Typisch.
Die vier Männer saßen an den Tischen links von Emily. Der nächste neben ihr war das Otis-Redding-Double. Abgesehen davon, dass er schwarz war, sah er dem verstorbenen Sänger in keiner Weise ähnlich, aber er hatte eine herrliche Stimme und trug einen offensichtlich sündhaft teuren schwarzen Anzug mit einem roten Seidenhemd
Weitere Kostenlose Bücher