Das Buch Ohne Gnade: Roman
feixte. »Nein. Da ist noch etwas anderes, obgleich es unter den gegebenen Umständen eher nebensächlich erscheint.«
»Und das wäre?«
»Im Kasino gibt es keine Schinkensandwiches mehr.«
»Dann iss eines mit Thunfisch.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, blickte Powell auf den Vertrag, der auf der Platte aus Marmorimitat neben dem Waschbecken lag. Es war der gleiche Vertrag, mit dem der Mann in Rot jedes Jahr zu ihm kam. Er nahm ihn hoch und blickte wieder in den Spiegel. Sein Besucher war verschwunden. Scheiße.
Powell betrachtete erneut den Vertrag. Laut seinem Besucher befand sich jemand im Hotel, der darauf aus war, seine Pläne zu vereiteln. Wer zur Hölle war es? Und weshalb? Es waren nur noch zwei Finalisten übrig, James Brown und Judy Garland. Der einzige Hinweis, den er hatte, deutete darauf hin, dass die Person, die ihm die Show verderben wollte, ein Mann Gottes war.
Ein Mann Gottes.
DREIUNDDREISSIG ♦
Emily war seit fast zwanzig Minuten alleine in der Garderobe. Alle fünf Finalisten hätten sich dort nach ihren Auftritten treffen sollen. Die anderen vier waren nicht erschienen, und sie machte sich zunehmend Sorgen, wo sie abgeblieben sein könnten. Hatte es irgendeine Änderung des Zeitplans gegeben, von der sie nichts wusste? Wahrscheinlich nicht, aber sie wollte nicht zu lange alleine bleiben.
War es möglich, dass die anderen vier Konkurrenten entschieden hatten, etwas trinken zu gehen und sie nicht dazu einzuladen? Mochten sie sie nicht? Roch sie schlecht? Schlechter als Kurt Cobain? Das war unwahrscheinlich, aber alle möglichen Theorien gingen ihr durch den Kopf, und alle machten sie ein wenig paranoid. Sie sollte lieber an etwas anderes denken, wie zum Beispiel daran, ob sie wirklich alles unternahm, um den Wettbewerb zu gewinnen.
Während sie am Schminktisch saß, betrachtete sie im Spiegel ihr Ebenbild. Sollte sie für das Finale etwas an ihrer Frisur verändern? Oder bei den Zöpfchen bleiben, die die echte Judy Garland im Kinofilm Der Zauberer von Oz getragen hatte? Ihre Mutter hatte immer darauf hingewiesen, dass die Frisur, die man trug, das wichtigste Detail war und gerne von anderen Tribute-Künstlern vernachlässigt wurde. Sie ließ sich diesen und verschiedene andere Punkte durch den Kopf gehen, als an der Garderobentür geklopft wurde.
»Miss Shannon? Sind Sie da?«, rief eine männliche Stimmevon draußen. Sie erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Nigel Powell.
»Ich komme«, antwortete sie.
Sie stand auf und öffnete die Tür. Powell stand davor, flankiert von zwei Angehörigen seines Sicherheitsteams. Emily lächelte nervös und trat zur Seite, damit sie hereinkommen konnten. Die beiden Wachmänner machten keinerlei Anstalten einzutreten, aber Powell trat vor, ohne auf eine ausdrückliche Einladung zu warten. Er trug noch immer seinen weißen Anzug mit dem schwarzen Oberhemd. Sein Haar war perfekt geordnet, aber irgendetwas fehlte. Er sah keineswegs so gelassen aus wie sonst. Seine Miene verriet unmissverständlich, dass er besorgt war.
»Was ist los?«, fragte sie, während sie die Tür hinter ihm schloss.
»Drei der anderen Finalisten haben sich offenbar den Magen verdorben. Ich befürchte, dass jemand sie vergiftet hat.«
»Wie bitte?« Emily spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sofort überlegte sie, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Das war das Frühstück gewesen, und das hatte nur aus einem Brötchen und einer Tasse Kaffee bestanden. Seitdem war sie viel zu nervös gewesen, um etwas zu essen. »O mein Gott. Geht es ihnen gut? Wissen Sie, womit genau sie sich den Magen verdorben haben?«
Powell zupfte unbehaglich an seinem Hemdkragen. »Nein. Im Hotel treibt sich ein verdächtiger Besucher herum, der möglicherweise seine Hände im Spiel hatte. Wir suchen gerade nach ihm.«
Emily erinnerte sich an einige Vorfälle im Laufe dieses Tages. »Ich sah neben der Bühne einen Mann, der auf mich ziemlich unheimlich wirkte und die Show verfolgte. Er meinte, er wisse genau, dass sie manipuliert sei. Er war ganz in Schwarz gekleidet. War er das?«
»Durchaus möglich. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich bringe Sie irgendwo hin, wo Sie ganz sicher sind und wo er Ihnen nichts anhaben kann.«
Emily war nicht nur erleichtert, sondern auch ziemlich aufgeregt – obgleich sie das niemals offen zugegeben hätte –, dass drei ihrer schärfsten Rivalen aus dem Wettbewerb ausgeschieden waren.
»Welche drei wurden denn vergiftet?«, erkundigte sie sich.
»Es
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