Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
es herauszufinden gab. Das war ihre oberste Priorität.
Es war fast elf Uhr, als sie die nächste Textstelle fand. Die Erzählung handelte immer noch von Xavier, und inzwischen war der Winter des Jahres 1537 angebrochen. Xavier war auf Reisen in Zentralamerika auf einen der Mönche aus dem ägyptischen Tempel gestoßen. Der Mönch, Ishmael mit Namen, war bei ihrer ersten Begegnung ein junger Novize gewesen, doch inzwischen war er ein erwachsener Mann. Wichtiger noch war, soweit es Xavier betraf, dass dieser Mönch aus dem Tempel verstoßen worden war, nachdem er sich mit Vater Gaius überworfen hatte. Obwohl das Buch ärgerlich vage blieb, was die genauen Gründe anging, so schien doch klar, dass Ishmael einen der heiligen Eide gebrochen und damit das geheime Versteck des Mondauges kompromittiert hatte. Die Geschichte ging damit weiter, dass Xavier und Ishmael unzertrennliche Gefährten wurden und die Suche nach dem Heiligen Gral gemeinsam fortsetzten. Erneut ließ sich die Mystische Lady für einige Minuten ablenken, als mehr und mehr offensichtlich wurde, wie dicht dieser Xavier und sein neu gefundener Freund dem sogenannten »Kelch Christi« auf der Spur waren.
Dann, als es so aussah, als stünden sie unmittelbar vor seiner Entdeckung, wechselte der Autor erneut – buchstäblich mitten im Satz. Eine völlig andere Handschrift setzte die Erzählung fort, und der Heilige Gral wurde nicht mehr erwähnt.
Der neue Schreiber nannte sich an keiner Stelle mit Namen, doch es war eindeutig ein Mann. Die Mystische Lady spürte es an der Art, wie er eine Schlacht gegen die Mächte des Bösen beschrieb und einer Queste nach dem Auge des Mondes, bevor der »Dunkle Lord« es fand. Bis zu diesem Punkt war noch kein Dunkler Lord erwähnt worden, oder zumindest war ihr nichts dergleichen aufgefallen. Der Autor erzählte aufregende Geschichten über Abenteuer auf der hohen See und Expeditionen durch Wüsten. Alles war guter Heldenstoff, bis zu dem Punkt, an dem sich der Autor plötzlich verliebte. Gelangweilt von den Sentimentalitäten, die von diesem Zeitpunkt an die Geschichte ertränkten, überblätterte die Mystische Lady diesen Abschnitt. Der Autor schwadronierte weiter und weiter, wie er sich in eine Frau namens Maria verliebt und wegen seiner verbotenen Liebe zu ihr das Recht verloren hatte, nach Hause zurückzukehren.
Die Weitschweifigkeit der Liebesgeschichte machte die Mystische Lady bald schläfrig, und so erhob sie sich kurz vor Mitternacht, um sich einen Becher Kaffee aufzubrühen. Doch der Koffeinschub stimulierte ihren Verstand nicht wie erhofft, und so beschloss sie, ein paar Stunden zu schlafen. Sie nahm ein schwarzes ledernes Lesezeichen aus einer Schublade in ihrem Tisch und legte es an der Stelle ins Buch, wo sie aufgehört hatte zu lesen. Dann wollte sie es schließen, doch dabei klappte es zwischen zwei Seiten auf, die eine Zeichnung enthielten. Sie hatte bereits mehrere Zeichnungen und Karten gesehen sowie Darstellungen von Artefakten und Gebäuden, die gleichmäßig über den Inhalt des Buches verteilt waren. Jeder der Autoren war ein Meister darin gewesen, diese Dinge festzuhalten, doch diese Zeichnung war anders. Es war eine Zeichnung von einem glücklichen Paar. Darunter war ein Untertitel in kleiner kursiver Schrift. Die Mystische Lady blinzelte angestrengt, damit ihr nicht die Augen zufielen, und las den Text:
Der Dunkle Lord Xavier an seinem Hochzeitstag
In diesem Moment klopfte es an ihrer Tür. Es war ein lautes, dröhnendes Geräusch. Die Mystische Lady war völlig überrascht und zuckte zusammen wie ein erschrockenes Reh. Ihr erster Impuls war, aufzustehen und zu öffnen, um den Idioten, der zu so später Stunde bei ihr klopfte, mit einer Flut von Flüchen und Verwünschungen abzuspeisen. Normalerweise klopften nur betrunkene Teenager zu so später Stunde bei ihr an – oder Menschen auf der Durchreise, die sich die Zukunft deuten lassen wollten. Doch weil das Mondfestival im Gange war, beschloss sie, ein wenig Vorsicht walten zu lassen, bevor sie jemandem öffnete, den sie noch nie gesehen hatte.
»Wer ist da?«, rief sie.
Niemand antwortete. Das war nicht ungewöhnlich. Es geschah im Gegenteil sogar recht häufig, dass einer der Komiker, die an ihre Tür klopften, nicht auf ihre diesbezügliche Frage antwortete. Es war ein wenig origineller Streich, den einige der kleingeistigeren Besucher gerne spielten. »Ich dachte, Sie wissen, dass ich es bin«, lautete ihre Antwort, wenn die
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