Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
sehr leise. »Sie wissen schon … über mich?«
»Nein. Es tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen. Bitte, gehen Sie.« In ihrem Tonfall war eine harte Endgültigkeit, und sie war sehr erleichtert, als sie sah, dass Jessica tatsächlich zur Tür ging. Die junge Frau schien nicht sonderlich beeindruckt von dem, was die Mystische Lady ihr soeben gesagt hatte. Sie schien mehr verwirrt als alles andere.
»Leben Sie wohl, Jessica!«, rief die Mystische Lady ihr hinterher. »Ich hoffe, Sie genießen den Rest des Mondfestivals.«
»Ja, danke. Leben auch Sie wohl … Annabel .«
»Wie bitte? Wie haben Sie mich gerade genannt?«
»Annabel. So heißen Sie doch, oder nicht? Annabel de Frugyn?«
Die Wahrsagerin war sehr vorsichtig, was die Herausgabe ihres richtigen Namens anging. Beispielsweise wäre sie dadurch für das Finanzamt leicht auffindbar geworden. Daher geschah es äußerst selten, dass irgendjemand, der ihr nicht sehr nah stand, ihren Namen kannte.
»Ja. So heiße ich. Aber woher wissen Sie das?«
Jessica bedachte die Mystische Lady mit einem Blick, der besagte, dass auch sie Geheimnisse zurückhalten konnte. Dann antwortete sie trotzdem.
»Jefe hat ihn mir verraten.«
Mit diesen Worten fegte sie den Perlenvorhang beiseite, stieß die Haustür auf und stürmte wütend hinaus in die Nacht. Sehr zum Ärger der Wahrsagerin ließ sie die Tür einfach offen stehen. Sie schwang langsam zurück, doch sie fiel nicht ins Schloss, sondern blieb einen Spaltbreit geöffnet. Für einen Fremden sah die Tür geschlossen aus, doch Annabel kannte ihre Tür und wusste, dass sie nicht so geschlossen war, wie sie es wollte. Insbesondere junge Leute hatten die Angewohnheit, Türen offen stehen zu lassen, und zu dieser späten Nachtstunde war das sehr ärgerlich. Noch zog es nicht, doch das war nur eine Frage der Zeit. Abgesehen davon musste sie die Tür absperren. Wenn Bourbon Kid tatsächlich herkam, dann würde er Jessicas Fährte vor der Tür aufnehmen und das winzige Heim der Mystischen Lady verschonen.
Trotzdem wäre es töricht gewesen, die Tür nicht zuzuschließen.
Normalerweise wäre die Mystische Lady gleich aufgestanden und hätte die Tür geschlossen, doch sie wollte zuerst einen raschen Blick auf das Bild werfen, das sie in dem Buch ohne Titel gesehen hatte. Sie griff nach unten und nahm das schwarze Seidentuch, um es über ihre Kristallkugel zu legen. Dann griff sie erneut unter den Tisch und zog das Buch hervor. Sie legte es auf den Tisch und versuchte, die Seite mit der Zeichnung von Xavier zu finden. Während sie die zahlreichen Abbildungen durchblätterte, kam die erwartete Windbö von draußen und blätterte eine Reihe von Seiten für sie um. Die Mystische Lady hatte weder die Zeit noch die Geduld für derartige Irritationen, also erhob sie sich, um die Tür zu schließen, die jetzt fast ganz offen stand.
Sie machte einen Schritt nach draußen, um zu sehen, ob Jessica noch in der Nähe war, und um ihr wütend die Faust hinterher zu schütteln, doch von ihrer nächtlichen Besucherin war keine Spur mehr zu entdecken. Auch sonst war niemand zu sehen, und es war eine große Erleichterung für sie, dass die Straße einsam und verlassen lag, so weit das Auge reichte.
Der Wind hatte stark aufgefrischt, und es kostete sie einige Mühe, ihre Tür zu schließen. Anschließend schob sie den schweren rostigen Metallriegel vor und drehte den kleinen silbernen Schlüssel im Schloss, bis er sich nicht mehr weiter bewegen ließ. Endlich war die Tür gesichert. Gähnend streckte sie sich und wandte sich um zu ihrem Tisch mit dem darauf wartenden Buch.
Es folgte ein schrecklicher Moment, als sie begriff, dass sie nicht mehr allein war in ihrem Heim. Jemand stand direkt vor ihr, mitten im Raum, zwischen ihr und dem Buch. Sie zuckte überrascht und geschockt zusammen. Es dauerte einige Sekunden, bevor sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder atmen konnte.
»Wie sind Sie reingekommen?«, fragte sie die furchteinflößende Gestalt.
Der Eindringling gab keine verbale Antwort auf ihre Frage. Im Verlauf der nächsten zwanzig Minuten waren die einzigen Geräusche, die aus dem Haus der Mystischen Lady drangen, ihre Schmerzensschreie, doch sie wurden größtenteils vom Heulen des Windes draußen übertönt, der inzwischen zu einem Orkan angewachsen war.
Annabel de Frugyns Schreie endeten abrupt, als ihr die Zunge aus der Kehle gerissen wurde.
Sechsundvierzig
Jensen war sehr unsanft auf den dreckigen,
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