Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
Josh nervös wurde, hatte er die unglückselige Neigung, die Kontrolle über seine Körperfunktionen zu verlieren. Das konnte sich auf mancherlei unterschiedliche Art und Weise zeigen, beispielsweise durch Rotz, der ihm plötzlich aus der Nase schoss, oder einen Mundvoll Speichel, der sich über der Person ergoss, mit der er gerade redete – oder, im Extremfall, eine nasse Hose, wenn sich seine Blase unbeabsichtigt ein wenig entleerte.
Ulrika hatte vom ersten Tag an das größte Vergnügen daran gehabt, ihm die Arbeit zu vermiesen, und sie genoss die Macht, die sie über ihn hatte. Einen fünfzehnjährigen Knaben wie Josh einzuschüchtern verschaffte ihr echte Befriedigung von der Art, wie sie sonst in ihrem traurigen, langweiligen und einsamen Leben nicht vorkam.
Heute war einer von jenen Tagen, an denen sie noch überspannter war als ohnehin, und Josh hatte kurz davor gestanden zu kündigen. Er hatte sowieso noch einen anderen Job, und er konnte es sich leisten, diese Stelle als Bibliothekslehrling zu verlieren. Seine einzige Verantwortung bestand darin, die zurückgegebenen Bücher an ihren Platz in den Regalen zu stellen, und nach Mrs. Prices Meinung war er selbst dazu zu dumm. Sie hatte ihn an diesem Tag bereits einmal ermahnt, weil er einen Roman von Dan Brown in die Sachbuch-Abteilung und – noch schlimmer – eine Biographie von Barbra Streisand in die Humor-Abteilung gestellt hatte. Es schien, als könnte er nur wenig richtig machen, wenigstens in Ulrikas Augen. Natürlich war es ihre eigene Schuld, wenn sie ihn unter so großen Druck setzte und verlangte, dass er die Bücher noch in der gleichen Minute zurückbrachte, in der sie die Titel als zurückgegeben einbuchte. Eine Sache, die sie auf den Tod nicht vertragen konnte, waren in den Himmel wachsende Stapel zurückgegebener Bücher auf ihrem Schreibtisch.
Die schwarzen Schuluniformhosen, aus denen Josh rasch herauswuchs, rutschten ihm allmählich in die Poritze wegen all dem Schweiß vom dauernden Hin- und Herrennen zwischen Schreibtisch und Regalen, und sein weißes Hemd war nahezu durchsichtig. Nachdem er ein Buch mit dem Titel Abnehmen für Kleinwüchsige auf den obersten Regalboden der Kochbuchabteilung gestellt hatte, kehrte er zum Schalter zurück, um herauszufinden, was die alte Miesepeterin als Nächstes für ihn hatte.
Als er dort eintraf, war sie am Telefonieren, und weil er wusste, wie sehr sie ihre Privatsphäre schätzte, blieb er ein wenig abseits stehen und wartete geduldig, bis sie ihr Gespräch beendet hatte. Sie saß in einem gepolsterten Plastiksessel hinter der Empfangstheke, mit dem Gesicht dem Eingang zugewandt, so dass sie genau sehen konnte, wer kam und wer ging. Sie war ständig auf der Lauer, um sicher zu sein, dass niemand ein Buch mitnahm, ohne dass die Ausleihe vorher vermerkt worden war.
Josh hütete sich davor, ihr Gespräch zu belauschen. Ulrika Price erhielt manchmal höchst zweifelhafte Anrufe von äußerst anrüchigen Charakteren, die sehr ungemütlich werden konnten. Josh wusste dies, weil er bei einer Gelegenheit, als sie nicht am Empfang gesessen hatte, mit verstellter Stimme ein Gespräch angenommen hatte. Ein Mann mit einer zutiefst unangenehmen Stimme hatte sich am anderen Ende gemeldet und eine Liste von vier Namen und ein Datum durchgegeben, bevor er ohne weiteres Wort den Hörer wieder auf die Gabel geknallt hatte. Der Junior-Bibliothekar hatte sich nichts dabei gedacht, doch als Ulrika Price einige Tage später herausfand, was er getan hatte, war sie an die Decke gegangen und hatte ihn mit einer Hand an der Gurgel gegen die Wand gedrückt. Danach hatte er sich nie wieder ans Telefon gewagt.
Jetzt, spät am Tag, schielte sie über ihre Lesebrille hinweg und kritzelte Notizen auf einen Block, während sie am Telefon m-hmmmte und a-hate. Josh war nicht sicher, ob sie ihn bemerkt hatte, deswegen räusperte er sich laut, um sie wissen zu lassen, dass er in Hörweite war. Das Geräusch zog einen bösen Blick von Mrs. Price nach sich, und sie zog ihre graue Strickjacke enger um die Schultern und wandte sich weit genug von ihm ab, um sicherzugehen, dass er nicht lesen konnte, was sie schrieb. Schließlich, nach weiteren zehn Sekunden des Nickens und m-hmmmens legte sie den Hörer zurück auf die Gabel des weißen, altmodischen Telefons und wandte sich zu ihrem Lehrling um.
»Ist alles erledigt, was ich dir aufgetragen hatte?«, brummte sie ihn missmutig mit in tiefe Falten gelegter Stirn unter dem blonden,
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