Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
hörbaren dumpfen Schlag mitten ins Herz des herannahenden Vampirs. Der schockierte Angehörige der Untoten spürte, wie es seine Brust zerriss. Mitten in der Luft hielt er inne, und die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu fallen vom plötzlichen Schmerz und Unglauben. So ein Dreck! , war sein letzter Gedanke. Ich will nicht bei einem dämlichen James-Taylor-Song sterben …! Eine Sekunde später ging er spontan in Flammen auf und stürzte ab. Er landete mit einem lauten Krachen vor Elvis’ Füßen, wo er rasch zu einem kleinen Häuflein Asche verbrannte.
In der Kirche der Gesegneten Heiligen Ursula und der Elftausend Jungfrauen wichen die Panik und die Angst der Kirchenbesucher von einer Sekunde zur anderen neuer Hoffnung und neuer Zuversicht. Was für die unter dem Kirchendach kreisenden Vampire nicht gesagt werden konnte. Für einen Augenblick wie betäubt vom ebenso endgültigen und gewaltsamen wie unerwarteten Ende eines der ihren, konzentrierten sie nun ihre Aufmerksamkeit auf den Sänger, der allein auf der Bühne stand und seine Nummer darbot.
Der King für seinen Teil spielte den Blues, als wäre nichts geschehen.
Von seinem Versteck auf dem kalten Steinboden unter dem – überraschend schweren – verrückten Jungen, den er als Deckung auf sich gerissen hatte, starrte Sanchez ehrfürchtig nach oben.
Alles sah ganz danach aus, als würde es eine höllische Show geben.
[1]
Die in Wirklichkeit die Einleitung von Richard Strauss’ Tondichtung Also sprach Zarathustra war, was Sanchez allerdings nicht wusste. Abgesehen davon hätte es ihn wohl auch einen Dreck interessiert.
Fünf
Kione liebte den 31. Oktober. Das Halloween-Gemetzel hatte etwas ganz Besonderes. Einen ach so süßen Beigeschmack.
Santa Mondega war voll von Vampiren aus der ganzen Welt, doch das Stadtzentrum war reserviert für die Untoten aus Nord- und Südamerika und Europa. Die ersten Vampirsiedler waren aus Paris hierhergekommen, und schon lange vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus waren ihnen viele ihrer europäischen Cousins und Cousinen gefolgt und hatten ihnen Gesellschaft geleistet. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Stadt einen großen Zustrom lateinamerikanischer Flüchtlinge erlebt. Einmal niedergelassen, waren viele von ihnen bald darauf Mitglieder der Gesellschaft der Untoten geworden und hatten ihre eigenen Clans gebildet. Nicht lange, und die Vampir-Population war viel zu groß geworden für die Stadt, so dass um die Zeit, als die ersten afrikanischen Vampire – wie Kione – gekommen waren, eine ungeschriebene Regel eingeführt worden war. Als Resultat mussten die afrikanischen und asiatischen Vampire in den Hügeln siedeln, die Santa Mondega umgaben. Die Orientalen und besonders die Nordafrikaner liebten die Freiheit und die frische, unverbrauchte Luft der Berge und Täler und zogen es vor, ihre Beute in der Wildnis jenseits des Stadtrands zu schlagen. Alle, das heißt mit Ausnahme von Kione. Er war seit vielen Jahren schon aus den Hügeln verbannt worden, weil er nicht nur einen, sondern sämtliche Grundsätze gebrochen hatte, die den Ehrenkodex der Vampire bildeten. Er war eine Kreatur ohne jeden Skrupel, ohne Klasse und ohne Stolz, er lebte unter dem Pier und erbeutete des Nachts, was er in seine fauligen Hände bekam.
Während seiner Zeit in den Hügeln war er Mitglied der Black Plague gewesen, eines Clans, der stets für sich geblieben war. Seine Angehörigen waren zahlreich und so lasterhaft wie jeder andere Clan, und es war allgemein bekannt, dass ein gewaltiger Krieg ausbrechen würde, sollten sie je Appetit auf einen Teil des Vergnügens in der Stadt bekommen. Einer der Hauptgründe, warum sie sich fernhielten, war eine mehrere hundert Jahre alte Altweibergeschichte. Die Legende sagte, dass für eine Stunde in jeder Nacht die Vogelscheuchen zum Leben erwachten und jeden Fremden jagten und töteten, der sich in die Stadt vorgewagt hatte. Es hatte in all den Jahren nicht einen einzigen Beweis für die Wahrheit dieser Geschichte gegeben, doch die Vogelscheuchen in den Vorgärten zahlreicher Vorstadthäuser trugen zur Hartnäckigkeit bei, mit der sich die Legende hielt, und sie erfüllten ihren Zweck, die Vampire aus den Hügeln von den Vorstädten fernzuhalten.
Die Mitglieder des Black-Plague-Clans waren bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie nach Santa Mondega reisten, so gut wie immer in großer Zahl unterwegs – das Gleiche galt für die Clans der Stadt, wenn sie in den Hügeln und
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