Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
zugleich ihren richtigen Namen: Jessica Gaius.
Nachdem Peto endlich etwas in dem Buch gefunden hatte, das wert war, gelesen zu werden, bereitete er sich einen Becher Kaffee und machte es sich in seinem Einzelbett in der Ecke seiner kleinen, spärlich möblierten, unbeheizten Wohnung gemütlich. Nackt bis auf das um seinen Hals baumelnde Auge des Mondes lag er gegen das Kopfende gelehnt unter dem dünnen Baumwolllaken. Er zog das kostbare Amulett niemals aus – ein nächtlicher Eindringling, der ihn im Schlaf zu töten versuchte, war zum Scheitern verdammt, solange Peto den Stein trug. Die Heilkräfte des Auges des Mondes waren, gelinde gesagt, phänomenal. (Ein besonderer Nutzen des Steins bestand auch darin, dass sein Träger nach einer durchzechten Nacht frei von Kopfschmerzen und jeglichem Kater aufwachte.)
Das sanfte blaue Leuchten des Auges des Mondes ermöglichte Peto, bei ausgeschalteter Nachttischlampe zu lesen. Und so lag er mit seinem abkühlenden Kaffee und dem kostbaren Auge im Bett und las die Geschichte über Jessicas Herkunft. Es war eine äußerst interessante Geschichte. Und eine äußerst bestürzende obendrein.
Nach dem trockenen und stellenweise akademischen Text zu urteilen, war sie die Tochter von Rameses Gaius, dem ägyptischen Herrscher, dessen mumifizierte Überreste angeblich aus der ägyptischen Ausstellung des Santa Mondega Museum of Art and History geflohen – oder gestohlen worden – waren. Cromwell hatte erzählt, dass Rameses Gaius nicht nur das Auge des Mondes besessen, sondern auch das volle Ausmaß seiner Kräfte beherrscht hatte. Fasziniert las Peto weiter. Er erfuhr, dass Rameses Gaius im ersten Jahrhundert nach Christus der oberste Mönch eines ägyptischen Tempels gewesen war. Aus dieser Position gewaltiger Macht heraus hatte er alles kontrolliert, einschließlich der Berufung des Pharaos. Er war im Volk als »der Mond« bekannt, weil er immer nur des Nachts aus dem Tempel kam.
Als junger Mann hatte Rameses Gaius bei einem Kampf ein Auge verloren. Einige Jahre später hatte er in einer der Großen Pyramiden einen blauen Stein gefunden, von dem es hieß, er habe dereinst Noah gehört. Mit seinen Kräften war es dem Patriarchen des Alten Testaments Jahrhunderte zuvor möglich gewesen, die Gezeiten der Sintflut zu kontrollieren. Als Rameses Gaius erst die Kräfte des Steins erkannte, trug er ihn nicht mehr wie viele, viele andere vor ihm um den Hals, sondern in seiner leeren Augenhöhle, und so wurde der Name »Auge des Mondes« geboren.
Mit diesem Auge lernte Rameses Gaius, viele Dinge zu kontrollieren. Seine beeindruckendste Fähigkeit war es, unbelebte Objekte allein mit der Kraft seiner Gedanken zu manipulieren. Beispielsweise eine Beethoven-Puppe , dachte Peto bei sich. Als wäre das nicht genug, hatte er außerdem seine eigene, korrupte ägyptische Version des Buchs der Toten erschaffen: Was einst ein Buch gewesen war, in welchem die notwendigen Riten für eine sichere Passage in das nächste Leben beschrieben wurden, hatte sich unter seiner Hand in das Buch des Todes verwandelt, seine mächtigste Waffe. Wann immer er Verrat witterte von einem seiner Ratgeber, reichte es aus, wenn er den Namen der betreffenden Person zusammen mit einem Datum auf einer der Seiten dieses Buchs vermerkte. Das Leben der fraglichen Person endete unausweichlich genau zum niedergeschriebenen Zeitpunkt, auch wenn die Opfer auf die unterschiedlichste Weise starben. Manche wurden ermordet, andere fielen einfach tot um oder schliefen friedlich in ihrem Bett ein. Die bloße Existenz des Buchs des Todes stellte sicher, dass Gaius der unangefochtene wahre Herrscher von Ägypten war, gleichgültig, wer gerade als Pharao an der Macht war. (Abgesehen davon wurde der jeweilige Pharao ohnehin von Rameses Gaius selbst bestimmt.) Er vertraute das Buch einem loyalen Untertanen zur Verwahrung an, und dieser hielt es in einem Versteck unter Verschluss.
Der Sturz von Rameses Gaius spiegelte das Ende zahlreicher Tyrannen. Nach Professor Cromwells Buch wurde Rameses Gaius genau wie viele andere extrem mächtige Menschen paranoid und vertraute denjenigen in seiner unmittelbaren Umgebung nicht mehr. Er hatte sich mit seiner Tochter zerstritten, nachdem diese erkannt hatte, dass sie niemals über Ägypten herrschen würde, denn das Auge des Mondes bescherte ihm Unsterblichkeit. Und weil er niemals sterben würde, konnte es auch niemals einen Nachfolger für ihn geben, also würde sich Jessicas Wunsch, den
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