Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
Betrieb. Jeder einzelne Gast sah aus wie ein Vampir. Wahrscheinlich hatten sie schon immer so ausgesehen, doch bis vor einem Jahr hatte Dante nicht gewusst, dass Vampire überhaupt existierten. Kein Wunder, dass sie ihm vorher nie aufgefallen waren.
Vielleicht zweihundert Gäste drängten sich in der Bar, tranken und unterhielten sich. Die meisten Bars in Santa Mondega waren raue und gefährliche Orte, wenn Dante sich recht erinnerte, doch das Nightjar erweckte tatsächlich den Anschein, als könnte man sich hier amüsieren. Auf einer Bühne zu seiner Linken spielte eine Girlgroup seinen »Lieblingssong«. Die Mädchen trugen sexy schwarze Lederoutfits und zeigten eine ziemliche Menge Fleisch. Und sie waren gut. Meine Fresse, spielen die gut. Die Leadsängerin mit ihren langen roten Haaren war scharf wie die Hölle. Die anderen spielten die unterschiedlichsten Instrumente, angefangen bei Gitarren und Schlagzeug bis hin zu Violinen und Flöten. Es waren acht junge Bräute insgesamt – sowie ein rundlicher Typ mit einer Tuba. Er sah ein wenig deplatziert aus, als einziger Mann und als fetter Bursche obendrein, noch dazu mit einer überkämmten Glatze und einem unpassenden Blechinstrument. Das Einzige, was er mit den Mädchen gemeinsam hatte, war das eng sitzende schwarze Lederoutfit, auch wenn bei ihm die Wirkung eine völlig andere war.
Nachdem Dante für ein paar Minuten der Musik gelauscht hatte, bahnte er sich einen Weg durch die Menge hindurch zur Theke. Und weil die Leute in der Menge nicht übermäßig darauf bedacht waren, ihm Platz zu machen, blieb es unausweichlich, dass er irgendwann zufällig irgendeinen muskulös gebauten Kerl anrempelte. Er hörte, wie der Typ fluchte, als er etwas von seinem Getränk verschüttete. Wenig überraschend drehte er sich um, um zu sehen, wer ihn geschubst hatte. »Du bist neu hier, wie?«, fragte er mit einem Akzent, der nach Engländer klang.
Dante lächelte entschuldigend und sah den Typ an. Er trug wie mehr oder weniger jeder andere eine schwarze ärmellose Lederweste und Bluejeans. Er war unrasiert und hatte ein schmales Gesicht mit hervorstehenden Wangenknochen unter einer dunklen Zottelmähne. Er war stark tätowiert. Seine Augen waren nicht zu erkennen, weil er eine – jedenfalls nach Dantes Empfinden – unwahrscheinlich coole Wraparound-Sonnenbrille trug. Er hielt ein halbvolles Glas Bier in der Hand. Die andere Hälfte tropfte von seiner Hand zu Boden oder lag bereits dort.
»Äh, ja«, lächelte Dante weiter sein verlegenes »Bitte tu mir nichts«-Lächeln.
»Du trägst kein Abzeichen, und du bist alleine.«
»Abzeichen?«
»Ja. Ein Abzeichen zeigt, dass du zu einem Clan gehörst. Das solltest du eigentlich wissen. Bist du ein Vampir oder nicht?«
»Oh. Ja. Sicher. Sicher bin ich einer, meine ich«, stotterte Dante.
»Gut. Weil die Cops in letzter Zeit nämlich verschiedentlich versucht haben, uns mit Undercover-Agenten zu infiltrieren. Das fehlende Abzeichen ist das erste verräterische Indiz.«
»Oh. Scheiße.« Dante war sicher, dass er bereits in Schwierigkeiten steckte. Laut »Scheiße« zu sagen half ihm dabei auch nicht weiter. »Kannst du mir so ein Abzeichen verschaffen?«
»Du gehörst also tatsächlich nicht zu irgendeinem Clan, wie?«, fragte der andere.
»Nö. Ich bin erst heute Morgen in der Stadt angekommen. Kann ich mich deinem Clan anschließen? Bitte.«
Inmitten der lärmenden Menge entstand eine kurze Verlegenheitspause. Dante war sich durchaus bewusst, dass er verzweifelt geklungen hatte – wie ein Schwächling an seinem ersten Tag in einer neuen Schule. Schließlich, nachdem er Dante eine scheinbare Ewigkeit von oben bis unten gemustert hatte, antwortete der Mann mit dem verschütteten Bier. »Klar«, sagte er und grinste Dante an. »Hier, nimm die.« Er griff in eine kleine Tasche auf der Vorderseite seiner Jacke und zog eine Sonnenbrille hervor, die genauso aussah wie seine eigene. Er reichte sie Dante, der sie mit einem gemurmelten Danke nahm und hastig aufsetzte.
Zu seiner Überraschung stellte der Möchtegern-Vampir fest, dass er perfekt durch das dunkle Glas hindurchsehen konnte. Als wäre es überhaupt nicht vorhanden. Es war eine Erleichterung, denn das Nightjar war nicht gerade hell erleuchtet. Jetzt konnte er andere Leute anstarren, ohne dass sie es merkten und ohne dass er sein Interesse verriet, weil sie nicht sehen konnten, ob er zu ihnen blickte oder nicht. Und weil der Typ, der ihm die Sonnenbrille gegeben
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