Das Buch ohne Staben - Anonymus: Buch ohne Staben - The Eye of the Moon
jemanden angerufen«, sagte er, als ihm auffiel, dass die Anzeige der Gesprächsdauer auf dem Display immer noch weiterlief. Während er hinsah, wechselte sie von 04:53 auf 04:54. Er sah die anderen schulterzuckend an, dann hielt er sich das Telefon ans Ohr und sprach in das Mikrofon.
»Hier ist Detective Benson vom Santa Mondega Police Department«, sagte er. »Mit wem spreche ich?« Er grinste seine blutigen Kumpane selbstzufrieden an. Er war jetzt unsterblich – was interessierte es ihn, wer am anderen Ende war? Er konnte nichts, aber auch gar nichts gegen ihn unternehmen.
Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, er atmete schwer. Schwer und langsam. Es war ein raues, heiseres Geräusch, und nach einigen Sekunden vertrieb die nervenzermürbende Resonanz ganz langsam das Grinsen von Bensons Gesicht. »Wer ist da?«, wiederholte Benson in schärferem Ton. Die anderen sahen ihn an, als sie die Besorgnis in seiner Stimme bemerkten. Die Untoten besitzen einen scharfen sechsten Sinn, und dieser sechste Sinn sagte ihnen, dass etwas nicht stimmte.
Das Atmen in der Hörmuschel stockte einige Sekunden später, als die Gegenseite auflegte. Das Display des Telefons zeigte die Gesprächsdauer an: 5:25.
»Wer war das?«, fragte De La Cruz, ohne sich zu bemühen, die Besorgnis in seiner Stimme zu verbergen.
Benson blätterte durch das Menü des Telefons.
»Geführte Gespräche – Großer Bruder – Dauer 5:25«, sagte er leichenblass.
Zweiunddreißig
Der Abend von Devon Hart war von dem Moment an beschissen verlaufen, als die beiden Typen mit den Balaklavas eine der Haustüren eingeschlagen hatten und hereinspaziert waren. Der größere der beiden hatte ihm das Messer in die Hand gerammt und Informationen aus ihm herausgequetscht. Doch das war noch nicht das Schlimmste, was ihm an diesem Abend widerfahren sollte. Bei weitem nicht.
Von dem Moment an, als er gesehen hatte, wie die beiden Typen den bewusstlosen Patienten aus Nummer 43 weggetragen hatten, war Devon klar gewesen, dass er seinen Job im Sanatorium an den Nagel hängen und aus Santa Mondega verschwinden musste, so weit weg wie irgend möglich. Dieser Patient war jemand, den man besser in Ruhe ließ. Jeder im Sanatorium wusste das. Die übrigen Insassen waren ausnahmslos entweder Mörder, die von Gerichten als unzurechnungsfähig eingestuft worden waren, oder Irre, die das Ende der Welt vorhersagten und versuchten, dafür zu sorgen, dass es auch eintrat. Der einzige nette Patient, den sie hatten, war Casper, besser bekannt im Haus als »Dreiundvierzig«. Er war ein Dummkopf und Einfaltspinsel, sehr höflich und wohlerzogen, doch zutiefst paranoid und mit dem Verstand eines Achtjährigen. Er war ziemlich sicher der am wenigsten aggressive von allen Patienten, und trotzdem wäre niemand jemals auf den Gedanken gekommen, sich mit ihm anzulegen. Ganz egal, wie verrückt oder gestört die übrigen Insassen waren – eines wussten alle: Lass Casper in Ruhe. Lass ihn nicht in Ruhe, und du bekommst nächtlichen Besuch und eine verdammt derbe Tracht Prügel von seinem älteren Bruder – einem Mann, dem lieber niemand in die Quere kommen wollte.
Caspers Bruder kam nicht oft zu Besuch, vielleicht alle sechs oder sieben Wochen. Er sorgte stets dafür, dass der Aufenthalt seines kleinen Bruders für mehrere Monate im Voraus bezahlt war, und er erkundigte sich jedes Mal eingehend an der Rezeption, ob jemand seinen kleinen Bruder seit seinem letzten Besuch geärgert hatte. Und weil die Rezeptionisten viel zu viel Angst davor hatten, Caspars großen Bruder zu belügen, sangen sie wie die Kanarienvögel und verrieten jeden, der Caspers Buntstifte gemopst oder ihm Brennnesseln gemacht oder einfach nur das Fernsehprogramm umgeschaltet hatte, wenn er die Sesamstraße hatte ansehen wollen. Die Schurken bezahlten teuer für ihre Missetaten, und es gab keine Wiederholungstäter, daher war Caspers Aufenthalt in Dr. Molands Sanatorium relativ angenehm und ruhig. Doch dieser Aufenthalt war jetzt beendet worden, und als Ergebnis würde Devon Hart seine Stelle verlieren.
Im Moment saß Hart mit dem Kopf in den Händen und den Hosen um die Knöchel im Erdgeschoss in Kabine Nummer drei der Herrentoilette. Sein Magen war ein einziger Klumpen, seit er gesehen hatte, wie Igor und MC Pedro den bewusstlosen Casper hinten in ihren Camper geworfen hatten und davongefahren waren. Es war jetzt drei Uhr morgens. Seine Schicht dauerte noch drei Stunden, und dann würde er nie wieder
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