Das Buch Rubyn
Freunde verriet? Oh, sehr lange Zeit, sei versichert. Aber er war zu stark. Und er drang in meinen Kopf ein. Er lachte die ganze Zeit. Ich hörte mich selbst sagen, dass Richard und Clare nach Malpesa gegangen waren. Am nächsten Morgen wachte ich auf und erkannte, dass ich nicht nur meine Freunde ans Messer geliefert hatte, sondern dass Rourke etwas in mir zerstört hatte. Ich war nie ein großer Zauberer, und wir beide wissen das, aber was immer an Magie in mir gesteckt hatte, war fort. Ich verließ mein Haus. Brach alle Brücken hinter mir ab. Ich … verschwand einfach.«
Nun verstand Michael plötzlich, warum dieser Mann zehn Jahre lang allein in einem einsamen Häuschen in den Bergen Italiens gelebt hatte. Er versteckte sich nicht vor dem grässlichen Magnus. Sondern vor dem, was er getan hatte. Er versteckte sich vor sich selbst. Michael empfand ein merkwürdiges, aber sehr starkes Mitgefühl für ihn.
»Aber warum hat Rourke das Buch nicht gefunden?«, fragte Dr. Pym. »Wir wissen, dass er Richard und Clare gefangen nahm, und ich bin sicher, dass er ihnen alles entlockte, was sie wussten.«
Hugo Algernon schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen einen Zauber mitgegeben, der alles Wissen über die Bücher aus ihrem Gedächtnis löschte. Vermutlich hatten sie Gelegenheit, ihn anzuwenden, bevor sie geschnappt wurden. Ich hätte ebensolche Vorsichtsmaßnahmen treffen sollen. Aber wie es scheint, hat Rourke von mir nur den Namen Malpesa erfahren.«
»Von dem kranken Mann oder der Karte hast du nichts verraten?«
»Nein. Ich habe zwar meine Freunde betrogen, aber das Geheimnis des Buches habe ich so tief in mir vergraben, wo nicht einmal er es finden konnte.«
»Sie hätten ihm gar nichts verraten dürfen!«, schrie Emma und hämmerte mit ihren kleinen Fäusten auf den Tisch. »Sie hätten gar nichts sagen dürfen!«
Hugo Alternon nickte und sagte: »Du hast recht, Kind. Das sage ich mir auch seit zehn Jahren.«
Er stand auf und ging zum Kamin. Er zog einen losen Stein über dem Kaminsims heraus, griff in die Öffnung und holte ein in Leder gewickeltes Päckchen heraus.
»Das sind meine Original-Notizen. Ich bewahre sie dort in der Nische auf, damit die Ziegen sie nicht auch noch fressen. Ich wusste, dass du mich früher oder später aufspüren würdest.« Er reichte dem Zauberer den Packen. »Der Krieg mag kommen, Stanislaus, aber ich kann dir nichts mehr nutzen. Die Magie hat mich verlassen.« Dann wandte er sich an Michael und Emma. »Wenn ihr euren Vater findet, sagt ihm, dass es mir leidtut. Sagt ihm, dass Hugo Algernon nicht weiter ist als ein alter Narr.«
Dr. Pym ging zur Tür und steckte seinen goldenen Schlüssel in das Schloss. Er drehte ihn viermal rechts herum und siebenmal nach links; dann folgte ein Klicken und er stieß die Tür auf. Sonnenschein flutete in das kleine Haus. Michael und Emma blickten über eine weite blaue Wasserfläche. Die Sonne stand schon tief und blendete sie, aber nur der Eingang des Häuschens ließ die Strahlen ein. Die Fenster blieben dunkel.
»Hier entlang, Kinder.«
Michael warf noch einen Blick auf den Teufel von Castel del Monte. Er saß am Tisch und streichelte eine kleine Zeige, die an seinem Hosenbein knabberte.
»Dr. Algernon …«
Der zottelhaarige Mann hob den Kopf und das Sonnenlicht aus einer anderen Welt erleuchtete zum ersten Mal seine Augen. Sie waren dunkelbraun und sehr traurig.
»Wir werden sie finden«, sagte Michael. Er wollte schon über die Schwelle treten, als ihn der Mann zurückrief.
»Warte.«
Hugo Algernon ging zu dem gerahmten Foto, das Michael bei seinem Eintritt betrachtet hatte, und löste es aus dem Rahmen.
»Hier«, sagte er und schob Michael das Foto in die Hände.
Michael schaute seinen Vater an – jung, lächelnd, voller Hoffnung. Er zog Alles über Zwerge aus seiner Tasche und steckte das Foto zwischen die Seiten. »Danke.«
Der Mann nickte und wandte sich ab. Michael trat durch die Tür.
Sie standen auf einer Klippe. Statt der Tür zu Dr. Algernons Häuschen befand sich hinter ihnen nun die Tür zu einem weiß getünchten Haus mit roten Holzläden. Vor den Fenstern hingen Kästen mit bunten Blumen, deren Duft sich mit dem salzigen Aroma des Meeres vermischte. Michael betrachtete die tief stehende Sonne. War es Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?
»Dr. Pym …«
»Wir sind in Galizien, im Westen Spaniens.« Der Zauberer steckte den goldenen Schlüssel in seine Jackentasche. »Dieses Haus gehört einem Freund von mir.
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