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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
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nichts. Er hatte den Eindruck, dass seine Brust von einem eisernen Band zerquetscht werden würde.
    »Aber Katherine glaubt an dich und ich tue es auch. Und da ich weiß, dass ein anstrengender Tag vor uns liegt, möchte ich, dass du jetzt schlafen gehst.«
    Als Michael ins Schlafzimmer kam, lag Emma schon im Bett. Das Licht war aus. Michael fand sich im Mondschein zurecht, wobei er sich Mühe gab, leise zu sein.
    Da sprach Emma ihn in der Dunkelheit an.
    »Michael?«
    »Ja.«
    »Glaubst du wirklich, dass Kate irgendwo in der Zukunft auf uns wartet?«
    Michael holte tief Atem und überlegte, was Kate an seiner Stelle wohl sagen würde.
    »Ja«, log er. »Das glaube ich.«
    »Ich auch.«
    Michael zog die Schuhe aus und kletterte ins Bett. Er stellte seine Tasche auf den Boden. Das Fenster stand offen und er hörte weit entfernt die Wellen gegen die Felsen branden.
    »Michael?«
    »Ja.«
    »Lass mich nicht allein, ja?«
    »Das werde ich nicht.«
    Kurz darauf war Emma eingeschlafen. Aber obwohl er hundemüde war, lag Michael noch lange wach und beobachtete den Mond, der übers Meer wanderte. Er dachte an seine Eltern, die verschwunden waren, an Kate, die sich irgendwo in der Zeit verirrt hatte, und daran, dass jetzt alles von ihm abhing.
    Ach Kate, dachte er, wo bist du?

»Nee, guck doch, sie bewegt sich. Die is nich tot.«
    »Piks sie doch noch mal.«
    Kate spürte, wie etwas sie in die Rippen stieß. Sie stöhnte und versuchte, dieses Etwas wegzuschieben.
    »Siehste? Ich hab doch gesagt, die is nich tot.«
    »Schade. Wir hätten fünf Dollar für sie gekriegt, wenn sie tot gewesen wär.«
    »Hä? Wieso das denn?«
    »Rafe sagt, dass man Leichen an die Doktoren verkaufen kann. Die geben einem fünf Doller für ’nen Kadaver.«
    »Was machen die denn mit den Toten?«
    »Die schneiden sie auf, um sich die Eingeweide und das alles angucken zu können.«
    »Fünf Dollar? Echt?«
    »Ja. Piks sie doch noch mal.«
    Die Stimmen gehörten Kindern, wahrscheinlich Jungen. Kate hielt es für das Beste, sie anzusprechen, bevor sie auf dumme Ideen kamen.
    »Ich … ich bin nicht tot.«
    Mühsam öffnete sie die Augen und stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Ihr Kopf, nein, ihr ganzer Körper pochte vor Schmerz. Als ob sie einen Marathon gelaufen, in eine Prügelei geraten und dann systematisch einige Stunden lang durchgerüttelt worden wäre. Sie blickte sich um. Sie lag auf einem Holzboden. Die Luft war kalt, das Zimmer klein, und durch die winzigen, verdreckten Fenster drang nur wenig Licht. Zwei Jungen beugten sich über sie. Sie schätzte sie auf etwa zehn Jahre. Ihre Gesichter und Hände starrten vor Schmutz. Ihre Kleidung war zerrissen, geflickt, wieder zerrissen und erneut geflickt. Sie trugen Wollmützen. Einer von ihnen hatte einen Stock in der Hand.
    »Ich bin nicht tot«, wiederholte Kate.
    »Tja«, sagte der eine und konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen, »sieht ganz so aus.«
    »Wo bin ich?«
    »Du liegst auf dem Boden.«
    »Nein, ich meine, wo bin ich hier?«
    »Wovon redest du? Du bist in der Bowery.«
    Das Weiße in den Augen der Jungen leuchtete vor dem Hintergrund ihrer schmutzigen Gesichter.
    »Die Bowery.« Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. »Wo ist das?«
    »Jetzt mach aber mal halblang«, sagte der andere. Er lächelte; die fünf Dollar, die er für Kates Leiche hätte bekommen können, waren offenbar vergessen. »Du weißt nich, in welcher Stadt du bist? Du bist in New York.«
    »In New York? Aber wie …?« Und dann fiel es ihr ein.
    Sie erinnerte sich an den Sturm, der um das Waisenhaus wütete, und an den Kreischer, der durch das Turmfenster brach und sie am Arm packte. Sie erinnerte sich, dass sie – das erste Mal seit neun Monaten – die Macht des Buchs Emerald beschworen hatte, und an ihr Entsetzen, als seine Magie sie durchströmte.
    Dann erinnerte sie sich, dass sie die Augen geöffnet hatte und sich an einem Strand unter gleißender Sonne wiedergefunden hatte, vor sich drei hölzerne Schiffe mit hohen Masten und weißen Segeln, die sich auf dem schimmernden tiefblauen Meer näherten. Der Schmerz in ihrem Arm verriet ihr, dass der Kreischer sie nicht losgelassen hatte. Ohne nachzudenken, rief sie die Magie ein zweites Mal an, und wieder durchströmte sie ihren Körper. Einen Moment später kämpfte sie mit der Kreatur auf der Zinne einer hohen Steinmauer. Es war Nacht. Flammen zuckten in den dunklen Himmel. Beißender Rauch drang in ihre Nase.

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