Das Buch Rubyn
Brot, Salami und Trockenfrüchte, die er aus seinem Rucksack hervorzauberte. Michael schaute auf seine Armbanduhr. Die Sonne müsste bald untergehen, dachte er, und doch war es noch hell. Plötzlich vernahmen sie einen Schrei, der nicht von einem Vogel zu stammen schien. Er kam aus Richtung des Vulkans. Er war rau und wild und brachte alles im Tal zum Schweigen.
»Was war das?«, flüsterte Emma.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Michael war ebenfalls ratlos. Aber ihm war klar, dass die Kreatur, die diesen Schrei ausgestoßen hatte, sehr, sehr groß sein musste.
Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit und setzten dann ihren Abstieg fort. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Wipfel der Bäume. Von hoch oben betrachtet, hatte die Landschaft auf Michael wie ein undurchdringlicher Dschungel gewirkt, aber jetzt erkannte er, dass hier Redwoods wuchsen. Er hatte die Mammutbäume schon auf Fotos und in Filmen gesehen, aber diese waren größer und höher als alles, was er sich je vorzustellen vermocht hatte. Der Boden des Tals war in Wahrheit viel weiter unter ihnen als sie gedacht hatten, so riesig waren die Bäume. Es dauerte noch geraume Zeit, bis sie ganz unten waren.
»Ich will gar nicht dran denken«, sagte Emma, als sie schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, »dass wir den ganzen Weg wieder hinaufklettern müssen.«
Das Licht war jetzt schwächer geworden; die Sonne ging langsam unter. Und hier im Schatten der mächtigen Bäume war es noch dunkler.
»Ich weiß, dass ihr müde seid«, erklärte Gabriel, »aber wir sollten trotzdem noch weitergehen. Ich möchte gerne näher am Vulkan unser Lager aufschlagen, damit wir gleich morgen früh unser Ziel erreichen.«
Michael nickte und Emma stöhnte. Sie marschierten weiter, wobei niemand mit auch nur einem Wort erwähnte, dass der merkwürdige und unheimliche Schrei aus der Richtung gekommen war, in die sie gerade gingen. Michael hatte das Gefühl, durch einen Wald voller schlafender Riesen zu laufen. Selbst Gabriel betrachtete ehrfürchtig die gewaltigen rotbraunen Baumstämme. Aber sie kamen nur langsam voran, denn der Waldboden war von einem dicken Teppich aus hoch wachsenden Farnen überwuchert, und Gabriel musste ihnen mit seiner Machete den Weg freihacken.
Außer ihnen rührte sich kaum etwas in diesem Wald. Die Vögel blieben oben in den Baumkronen und die einzigen anderen Lebewesen in der näheren Umgebung waren glänzende rot-schwarze Käfer, die an den Stämmen hochkrabbelten und hin und wieder mit einem lauten Sirren und Klackern die Flügel ausbreiteten und zwischen den Bäumen hindurchflogen. Sie hatten die Größe von ausgewachsenen Sumpfschildkröten, und die Kinder begriffen schnell, dass sie sich ducken mussten, wenn sie einen kommen hörten, nachdem Michael von einem der Käfer am Hinterkopf getroffen und förmlich von den Füßen gerissen worden war.
Und trotzdem, dachte Michael, während er den blauen Fleck hinter seinem Ohr betastete, wenn es hier nur Vögel und Käfer gibt, warum fühle ich mich dann so beobachtet?
Als sie sich vorwärtskämpften, hörten sie das Geräusch von fließendem Wasser, und schließlich erreichten sie einen Fluss, der etwa vierzig Meter breit war. Sein Wasser war klar und er floss mit rascher Strömung mitten durch den Canyon. Ihnen war heiß von der langen Wanderung und Gabriel willigte in eine kurze Rast ein. Sie legten sich bäuchlings auf den Boden und tauchten die Gesichter ins Wasser. Es war eisig kalt und sie tranken, bis ihnen die Zähne wehtaten.
Derart erfrischt, machte sich die kleine Truppe wieder auf den Weg. Sie folgten dem Fluss, bis es so dunkel war, dass man kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte. Die Beine der Kinder waren bleischwer, und als Emma zum fünfzehnten Mal gesagt hatte: »Hier ist doch ein guter Platz für ein Lager«, beschloss Gabriel, auf einem großen Felsen zu übernachten, von dem aus sie den Fluss in beide Richtungen überblicken konnten. Er holte etwas von dem Proviant aus seinem Rucksack – Wurst, Brot und Trockenfrüchte – und erklärte, dass er kein Feuer anzünden würde. Das Risiko, gesehen zu werden, sei zu groß. Michael fragte sich, ob auch Gabriel den Eindruck hatte, dass sie beobachtet wurden. Aber der große Mann verlor kein Wort darüber. Nachdem sie gegessen hatten, schnitt Gabriel einen Arm voll Farnwedeln ab und errichtete daraus ein gut gepolstertes, weiches Bett auf dem Felsen. In dem Augenblick, als Emma
Weitere Kostenlose Bücher