Das Buch Rubyn
so erschwert hatten, sich jetzt fast bereitwillig zur Seite zu neigen, um den Kindern den Weg freizugeben.
»Wo … ist Gabriel?«, keuchte Emma.
»Er wollte die Musik suchen.«
»Glaubst du, wir treffen ihn?«
»Vielleicht. Wenn nicht, suchen wir nach ihm, während wir tanzen!«
»Oh ja!«, jubelte Emma, die normalerweise das Tanzen genauso verabscheute wie Michael. »Und dann kann Gabriel auch mittanzen!«
»Weißt du, wahrscheinlich ist er schon dort und tanzt längst!«, lachte Michael.
Und dann, ganz plötzlich, waren sie da.
Es war eine große, kreisrunde Lichtung, die von hohen Bäumen umringt wurde. Am Rande der Lichtung standen Farne, doch auf der Lichtung selbst wuchs nur niedriges, dichtes und samtweiches Gras. Auf der gegenüberliegenden Seite traten Gestalten mit Fackeln zwischen den Bäumen hervor. Sie waren zu weit weg, um sie genau erkennen zu können, aber Michael wusste, dass sie diese Musik machten. Und erst da erkannte er, dass die Musik in Wirklichkeit Gesang war. Stimmen erzeugten diese wundervollen Klänge.
Emma stieß einen leisen Schrei aus, aber Michael hielt sie zurück.
»Was machst du denn? Wir müssen –«, protestierte Emma.
»Mir kam gerade ein schrecklicher Gedanke.« Sie kauerten im Schatten des Waldrandes. Michael blickte Emma ernst und eindringlich an. Er wollte, dass sie begriff, was er jetzt sagen musste. »Was, wenn wir nicht passend angezogen sind? Ich möchte mich nicht lächerlich machen.«
Emma starrte ihn an und nickte dann. »Da ist etwas Wahres dran.«
»Ja, nicht wahr?« Michael verfluchte sich im Stillen, dass er nicht daran gedacht hatte, elegantere Kleidung mitzunehmen. Er hätte wissen müssen, dass er sie brauchen würde.
Die Gestalten schritten auf die Mitte der Lichtung zu. Im Näherkommen wurden ihre Gesichter im Schein der Fackeln sichtbar. Die Kinder hielten den Atem an.
»Michael, sind das …?«
»Ja.«
»Wirklich? Ich meine … wirklich und wahrhaftig?«
»Ja.« Seine Stimme war nur ein trockenes Krächzen, aber trotzdem stieß er hervor: »Das sind Elfen.«
Es waren etwa vierzig an der Zahl. Einige trugen Fackeln, andere hatten Laternen dabei. Alle sangen sie, und obwohl sie nicht tanzten, war ihr Gang, ja sogar die kleinste Bewegung eleganter und graziöser als jeder Tanz. Und jeder Einzelne von ihnen, erkannte Michael niedergeschlagen, war makellos gekleidet.
Die Elfenmädchen – jedenfalls hielt Michael sie dafür – trugen lange weiße und cremefarbene Gewänder aus einem zarten, fedrigen Material, während die Elfenjungs weiße Hosen und Hemden anhatten sowie rosa-weiß, blau-weiß und grün-weiß gestreifte Jacken. Sie trugen außerdem noch Strohhüte mit passend farbigen Bändern, während die Damen zierliche Sonnenschirme über ihren Schultern drehten. Ein paar Elfen hatten auch Tennisschläger mit Holzrahmen dabei.
Michael schätzte die Mode der Elfen auf die Zeit um 1900, und der logische Teil seines Gehirns – der im Augenblick zugegebenermaßen im Sparmodus funktionierte – informierte ihn darüber, dass sich vor etwa hundert Jahren die magische von der menschlichen Welt gelöst hatte. Die Elfen schienen einfach den Trend der damaligen Zeit beibehalten zu haben.
Und wie recht sie hatten, dachte Michael. Sie sahen einfach wunderbar aus.
»Ihre Kleider sind herrlich!« Emma wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. »Wo sollen wir solche Kleider herbekommen?«
»Pst!«, wies Michael sie zurecht. »Ich will zuhören.«
Die Elfen waren in der Mitte der Lichtung zusammengekommen, und ihr ätherischer, wortloser Gesang, den Michael und Emma in ihren Träumen vernommen hatten, wechselte mit einem Mal die Melodie. Jetzt war es ein fröhliches Liedchen, so unbeschwert und trällernd wie eine Sommerbrise.
Und diesmal verstand Michael, was gesungen wurde.
Oh, sie muss fressen, fressen, fressen,
sie platzt aus allen Nähten.
Ihr Leib ist lang und schlank,
die Nägel scharf wie Eis,
die Augen hell wie Diamanten.
Und doch – der Magen knurrt.
Oh, sie muss fressen, fressen fressen,
sie platzt aus allen Nähten …
»Wovon handelt das Lied?«, wollte Emma wissen.
»Keine Ahnung«, sagte Michael. »Aber es ist ein so liebliches Lied, findest du nicht auch?«
»In der Tat«, sagte Emma, »ein liebliches, liebliches Lied.«
Und Emma dachte, dass sie das Wort »lieblich« nicht halb so oft benutzte, wie sie sollte, und sie nahm sich vor, dies umgehend zu ändern. Lieblich war ein so liebliches Wort.
»Lieblich lieblich
Weitere Kostenlose Bücher