Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
Vom Netzwerk:
Sturm umgeweht zu werden. Das Vorwärtskommen war unglaublich anstrengend, weil er sich beim Gehen gleichzeitig zurücklehnen musste – dem brüllenden Wind entgegen. Zwischen den Böen klarte es hin und wieder auf und Michael konnte für einen kurzen Moment vier oder fünf Meter weit sehen. Aber die meiste Zeit stand nur undurchdringliches Weiß vor seinen Augen.
    Bitte, dachte er, ich darf mich nicht irren.
    Doch er war sich sicher: Was er fühlte, war die Chronik des Lebens, das Buch Rubyn, das ihn zu sich rief. Der Zug wurde mit jedem Schritt stärker. Er musste an einen Ausflug denken, den er, seine Schwestern und ein paar andere Kinder vor ein paar Jahren unternommen hatten. Sie waren auf einem Bauernhof gewesen, mitten im Nirgendwo, und der Fahrer des Busses, ein nörgelnder junger Mann, hatte im Radio nach einem Sender gesucht, der ausnahmsweise keine Banjo-Musik spielte, wie er sich ausdrückte. Endlich hatte er Erfolg. Die Musik klang anfangs kratzend und weit entfernt, aber je länger sie fuhren und je näher sie der Station kamen, von der das Signal ausging, desto deutlicher und klarer wurde die Musik.
    Genauso war es jetzt. Michael dachte, dass er seiner eigenen Musik immer näher kam.
    »Michael!«
    Emma hatte ihm ins Ohr geschrien. Jetzt packte sie ihn an der Schulter und deutete nach vorn.
    Michael schaute auf. Er hatte zu Boden gestarrt und sich darauf konzentriert, seine Begleiter vor einem Sturz in eine Gletscherspalte zu bewahren. Und da sah er es: Keine vier Meter voraus, immer nur kurz sichtbar durch das Wirbeln der Schneeflocken, bewehrt von drei mit Schnee und Eis bedeckten Felssäulen, die aussahen wie Reißzähne – die dunkle, wie ein aufgerissenes Maul wirkende Höhlenöffnung.
    Nur Sekunden später standen sie in der Höhle, stampften mit den Füßen und schlugen sich den vom Wind festgepappten Schnee von den Kleidern. Sie schüttelten die Eiskristalle aus ihren pelzverbrämten Kapuzen, während draußen immer noch der Sturm tobte. Gabriel gab Michael einen Klaps auf die Schulter.
    »Gut gemacht.«
    Michael zuckte mit den Schultern, was aber wegen des dicken Parkas niemand sah.
    »Ach, na ja, war ja keine große Sache.«
    »Tja«, sagte Emma, »da hast du vermutlich recht.«
    »Na, weißt du«, gab Michael pikiert zurück, »eigentlich war es doch eine ziemlich große Sache.«
    Da lachte Emma und klatschte in die Hände, was wegen ihrer Handschuhe nur ein dumpfes Popp! machte, und sie sagte: »Aber klar war das eine große Sache! Wenn König Robbie hier wäre, würde er dir vermutlich gleich ein Dutzend Medaillen verleihen!«
    »Ha-ha!«, sagte Michael. Aber insgeheim dachte er, dass eine Medaille durchaus angebracht wäre.
    »Ist dir immer noch kalt?«, fragte ihn Emma. »Du zitterst ja.«
    Es stimmte, Michael zitterte, aber das hatte nichts mit der Kälte zu tun. Man hätte glauben können, dass der Erfolg, die Höhle bei diesem Sturm gefunden zu haben, sein Selbstbewusstsein gestärkt hatte. Aber das Gegenteil war der Fall. Er begriff nicht, wie das alles zu erklären war, wie es möglich war, dass ihm dieses Kunststück gelungen war. Er hatte den Eindruck, jegliche Kontrolle verloren zu haben, und dieses Gefühl machte ihm Angst. Michael sagte sich, dass er unglaublich viel Glück gehabt hatte, sich aber nicht darauf verlassen konnte, dass diese Glückssträhne andauerte.
    »Ich muss mich nur bewegen.«
    »Dann gehen wir weiter.« Gabriel hatte drei Taschenlampen aus seinem Rucksack geholt und reichte je eine den Kindern. »Du bist der Führer, Michael. Geh voraus.«
    Michael schaute Emma an, die nur mit den Schultern zuckte und sagte: »Sieh nur zu, dass du uns nicht umbringst.«
    Daraufhin drehte sich Michael um und gemeinsam machten sie sich auf den Weg tiefer in die Höhle hinein.
    Die Höhle unterschied sich von allen anderen unterirdischen Gängen und Tunneln, in denen die Kinder je gewesen waren, denn Wände, Boden und Decke waren mit einer dicken Eisschicht überzogen. Es sah aus wie das blauweiße Innere einer Muschel. Glücklicherweise hatten die Stiefel, die Gabriel gekauft hatte, dicke Profile und hafteten gut auf der glatten Fläche. Trotzdem gingen sie langsam und vorsichtig. Das Licht der Taschenlampen funkelte und glitzerte auf den Wänden, und die Herzen der Kinder schlugen schneller, da es wirkte, als würden sie von Tieren belauert, die sie mit glühenden Augen aus der Dunkelheit beobachteten.
    Es dauerte nicht lange und das Toben des Sturms verklang. Der Tunnel

Weitere Kostenlose Bücher