Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
allen die Dümmsten und Kräftigsten. Außerdem besaßen sie die schärfsten Klingen.
Seither waren Jahrhunderte ins Land gezogen, und als Sinaida die Stadt im Januar des Jahres 1258 betrat, waren die Viertel am Fuße der Mauern längst zu einem irrwitzigen Moloch aus Häusern, Hütten, Zelten und den alles überragenden Minaretten der Moscheen verwildert. Am Ostufer des Tigris ritt sie durch das Viertel ar-Rusafah mit seinen Palästen und waffenstarrenden Kasernen. Sie wollte den Fluss auf der mittleren der drei Brücken überqueren. Hier aber wurde sie angehalten und nach Süden verwiesen, zur unteren Brücke , die allein den Frauen vorbehalten war. Sinaida fügte sich, stieg am Beginn der Brücke vom Pferd und reihte sich in den Strom der Weiber ein, die hier beladen mit Krügen, Säcken und Bündeln von einem Ufer zum anderen wechselten.
Schon weit vor den Toren Bagdads hatte sie von einem Händler ein schlichtes Gewand mit Schleier erworben, das sie nun über Hose und Hemd trug. Die tiefblaue Seide verbarg die untere Partie ihres Gesichts, doch ihre Mandelaugen erregten so manchen argwöhnischen Blick. Sie fragte sich, ob die Nachricht vom Näherrücken der Großen Horde die Stadt womöglich schon erreicht hatte und ihre selbst gestellte Mission, den Kalifen vor Hulagus Angriff zu warnen, längst hinfällig war. Doch, nein, das war unmöglich, denn die Horde war bei aller Schnelligkeit der Einzelnen doch ein behäbiger Koloss, der noch viele Tagesreisen entfernt sein musste. Sinaida war auf dem kürzesten Weg hierher geeilt, hatte sich kaum eine Rast gegönnt und das arme Pferd fast zu Schanden geritten. Kein Bote, kein Späher konnte ihr zuvorgekommen sein.
Es würde nicht leicht werden, ihre Botschaft bis ans Ohr des Kalifen zu tragen. Die dritte und innere Mauer der Runden Stadt trennte die übervollen Wohnviertel mit ihrem Lärm und Gestank von den lieblichen Gärten des Herrschers, in deren Zentrum sich der Kalifenpalast, seine Moschee und die mächtige Bibliothek erhoben. Sinaida blieb keine Wahl, als irgendwie dorthin vorzudringen. Sie vertraute darauf, dass die Dringlichkeit ihrer Warnung Tore öffnen würde, die anderen verschlossen blieben.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke, südlich der Runden Stadt, befand sich das Viertel al-Karkh, der größte und älteste von Bagdads Basaren. Sinaida führte das Pferd jetzt am Zügel und folgte einer Straße, die parallel zu einem der zahlreichen Wasserkanäle verlief. Menschenmassen schoben sich in beide Richtungen. Es hieß, in der Stadt des Frieden s l ebten zwei Millionen Seelen, und hier, im lärmenden Gedränge al-Karkhs, begriff Sinaida zum ersten Mal, was diese Zahl bedeutete. Nach dem sagenumwobenen Konstantinopel, dem einstigen Byzanz, galt Bagdad als zweitgrößte Stadt der bekannten Welt, und Sinaida hatte Zweifel, dass es selbst in den unerforschten Regionen im Norden und Süden Orte gab, an denen mehr Menschen auf so engem Raum lebten.
Die Kälte des Winters verlor zwischen so vielen Männern und Frauen an Schärfe. Sinaida sah Bettler, die trotz zerlumpter Kleidung keine Zeichen von Erfrierungen zeigten. Gesindel wie sie wurde in Karakorum nicht geduldet, doch hier schien nichts Anstößiges daran zu sein, sich sein Überleben durch Almosen zu sichern. Sinaida kamen die meisten Menschen recht übellaunig vor, es wurde wenig gelächelt, dafür umso mehr gebrüllt. Schmutz und vielstimmiger Lärm waren allgegenwärtig. Es stank abwechselnd nach Urin, Gewürzen, Tierdung und Schweiß, und manchmal nach einer unbeschreiblichen Mischung aus alldem. Hunde, Katzen und Ratten wuselten zwischen den Füßen der Menschen umher. Zuweilen bekam ein Tier einen Tritt oder wurde von einem Karren angefahren, und dann drang aus der brodelnden Masse ein helles Quieken oder Kreischen, das alsbald von irgendwem durch einen kräftigen Hieb oder Messerstich beendet wurde.
Aus den oberen Stockwerken der Häuser ragten Balkone mit aufwändigen Verzierungen aus Holz, die den Mustern der Wandteppiche und Tücher unter den Fenstern ähnelten. Die Straße war zu weiten Teilen überdacht, manchmal mit farbigem Tuch, das das Licht darunter düster und seltsam unwirklich machte, hier und da auch mit baufälligen Lattenkonstruktionen, die unzählige Löcher und Lücken aufwiesen; es grenzte an ein Wunder, dass nicht bei jedem Windstoß Einzelteile herabfielen und die Passanten am Boden verletzten.
Laternen schwangen über den Köpfen der Menschen an Schnüren und
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