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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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überdachten Gassen taten das ihre, die widerlichen Wolken zwischen den Häusern festzuha lten. Die Holzgitter auf den Bal konen waren oftmals beschädigt, alte Malereien an den Fassaden verblasst oder mit neuen, schäbigeren Motiven verunziert.
    Die Mauern waren hier wie überall in Bagdad aus sandfarbenen Lehmziegeln, denn in der Umgebung gab es kein Gestein, das man hätte verbauen können. An vielen Stellen waren die Ziegel brüchig geworden. Auf ihrem Weg zum Tor der Palastgärten zählte Sinaida an einer einzigen Straße vier eingestürzte Gebäude. Die Trümmer waren nie beseitigt worden. Kinder und wilde Hunde spielten in den Ruinen.
    Die Mauer der Gartenanlagen im Mittelpunkt der Runden Stadt war so hoch wie sechs Männer und mit zweifach gestuften Zinnen umfasst. An ihrem Fuß standen Soldaten mit aufgepflanzten Schwertlanzen. Auch oben auf dem Wehrgang patrouillierten gerüstete Krieger in bauschigen Pluderhosen, Kettenhemden und schalenförmigen Helmen.
    Ein gewaltiger Pulk aus Bittstellern hatte sich vor dem Tor versammelt, viele saßen auf dem Boden und hatten sich Decken umgelegt. Schon von weitem sah Sinaida, dass die Torwächter alle Hände voll damit zu tun hatten, Neuankömmlinge abzuweisen; einige, die besonders aufdringlich waren, wurden unter Androhung von Waffengewalt vertrieben.
    Sie trat zu einem alten Mann, der am Straßenrand kauerte. Vor sich in den Schmutz hatte er mit einem kleinen Holzstück ein quadratisches Raster aus neun Feldern gezogen. Wieder und wieder zeichnete er Kreuze und Kreise in die Vierecke. Vermutlich irgendein Spiel, von dem Sinaida nie gehört hatte.
    » Verzeiht mir «, sprach sie ihn an und ging neben ihm in die Hocke. Er blickte freundlich auf, runzelte aber die Stirn, als er ihre Mandelaugen über dem Schleier bemerkte. » Ich komme von weit her, um eine Audienz beim Kalifen zu erbitten «, sagte sie. » Könnt Ihr mir sagen, wie lange man warten muss, um vorgelassen zu werden? «
    Sein Gesicht war so faltig wie das Trockenobst, das in einer Schale neben ihm lag. Dort wölbte sich auch ein Lederschlauch mit Wasser. » Ich komme jeden Tag im Morgengrauen hierher «, sagte er. » Und jeden Tag bei Sonnenuntergang gehe ich wieder nach Hause, ohne auch nur einen Blick auf die Gärten und den Palast geworfen zu haben. So geht das seit fast vier Wochen. «
    » Vier Wochen! «
    » Woher kommst du, meine Tochter? «
    » Aus dem Osten. «
    » Das kann ich sehen. Aber woher genau? «
    Sie überlegte, ob etwas gegen die Wahrheit sprach. Schließlich zuckte sie unter ihrem Seidengewand die Schultern. » Aus den Elburzbergen. «
    » Das ist in der Tat ein weiter Weg. « Er lächelte gutmütig und bot ihr mit einer Handbewegung von seinen Früchten an. Sie lehnte dankend ab, bereute es aber im selben Moment, als ihr bewusst wurde, dass sie kaum noch Geld besaß, um sich etwas zu essen zu kaufen. Der Mann stieß einen Seufzer aus. » Leider kümmert es diese uneinsichtigen Dummköpfe am Tor nicht, woher einer kommt und welche Reise er auf sich genommen hat. Vor zwei Wochen war die Delegation eines Fürsten hier, die einen ganzen Monat unterwegs gewesen war. Die Soldaten haben sie drei Tage warten lassen, ehe die Männer unverrichteter Dinge wieder abgereist sind. « Er hob die Achseln. » War vielleicht kein wichtiges Anliegen. «
    » Aber was ich zu sagen habe, kann keine vier Wochen warten! «, entfuhr es ihr aufgebracht.
    » Geht es um die Zukunft des Reiches? «, fragte er mit erhobener Augenbraue.
    » Woher weißt du das? «
    Er kicherte leise. » Geht es darum nicht immer? «
    » Aber – «
    » Jeder hier, und mag sein wahres Anliegen noch so gering sein, erzählt den Soldaten von großen Gefahren für Leib und Seele des Kalifen, von den Ghul aus den Tiefen der Wüste oder feindlichen Armeen, die von Osten, Süden oder Norden näher rücken. « Er winkte ab. » Wenn es eine Lüge gibt, mit der man ganz gewiss keine Audienz erhält, dann diese. «
    Sie war drauf und dran, zu widersprechen. Aber vermutlich hätte er sie nur ausgelacht.
    » Ich habe hier Männer und Frauen getroffen, die acht oder neun Wochen gewartet haben, ehe sie schließlich aufgegeben haben «, fuhr der Alte fort. » Mach dir also keine allzu großen Hoffnungen. «
    Sinaida blickte zum Tor und an der erdfarbenen Mauer empor. Die meisten Soldaten, die sie von hier aus sehen konnte, wirkten gelangweilt. Die Gleichgültigkeit der Männer gegenüber den Anliegen der Bittsteller machte Sinaida zornig.

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