Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
eisernen Haken, und Sinaida vermochte di e L ichterpracht nur zu erahnen, die hier in den Nächten flackerte. Sie nahm sich vor, im Dunkeln zurückzukehren, um sich dieses Schauspiel anzuschauen. Wenn erst die Große Horde einfiel, würde von den Wundern Bagdads nicht viel übrig bleiben.
Mehr und mehr fiel ihr auf, dass nicht nur Araber hier lebten. Sie sah Händler, die ihre Ware als venezianisch anpriesen; Schausteller aus Frankreich, die hinter papierenen Schirmen bizarre Schattenspiele aufführten; afrikanische Sklaven, deren Haut so schwarz war, dass sie bei Nacht zweifellos unsichtbar wurden; eine Gruppe junger Mädchen mit Mandelaugen wie ihre eigenen und einen weißen Sklaventreiber, der sie an goldenen Fesseln durch die Straßen führte. Ein christlicher Priester wanderte zeternd umher und schwenkte sein Kreuz, was ihm einen Hagel aus Eiern und Pferdeäpfeln einbrachte, aber niemand erhob eine Waffe gegen ihn. Da waren Türken mit Säbeln so groß wie sie selbst. Ein alter Mann, aus dessen Augenhöhlen Maden krochen. Kinder mit Geschwüren und Beulen im Gesicht. Aber auch schlanke Frauen, deren exquisite Körper sich unter all der Seide nur erahnen ließen, und Männer von edler Anmut.
Schließlich machte die Straße einen Knick nach rechts und endete bald an einem der vier Zugänge zur Runden Stadt. Es war das Basra-Tor im Südosten der äußeren Ringmauer, und Sinaida erfuhr bald, dass es nicht gestattet war, Tiere mit ins Innere zu nehmen. Sie musste ihr Pferd bei einem hakennasigen Alten lassen, der die ihm anvertrauten Tiere auf einem finsteren Hinterhof verwahrte, so eng beieinander, dass Sinaida das Herz blutete, als sie ihren treuen Weggefährten derart eingepfercht sah. Zudem verlangte der Mann einen Preis für die Aufbewahrung, der endgültig jene Summe aufzehrte, die sie einem Händler am Fuß der Elburzberge gestohlen hatte. Voller Gewissensbisse ging sie danach auf das Tor zu, ehe sie es sich anders überlegte, umkehrte un d d as Tier zurückverlangte. Das Pferd bekam sie, nicht aber ihr Geld, und weil sie kein Aufsehen erregen oder gar als Diebin beschuldigt werden wollte, ließ sie die Münzen zurück. Das Pferd aber verkaufte sie zwei Häuser weiter an einen jungen Burschen, der ihr zwar einen lächerlichen Preis dafür bot, aber ein freundliches, ehrliches Gesicht hatte und aussah, als würde er in Zukunft gut für es sorgen.
Ohne Reittier und kaum Geld in den Taschen reihte sie sich in die Menschenschlange vor dem Basra-Tor ein. Ihr Krummschwert trug sie in ein schmutziges Tuch eingeschlagen unter dem Arm, der Dolch steckte in ihrem rechten Stiefel.
Der eigentliche Zugang befand sich in der Seitenwand der zinnenumkränzten Eingangsbastion und war kaum breit genug, um zwei Menschen nebeneinander einzulassen. Dahinter befand sich ein ummauerter Wachhof, der sich als langer Schlauch zwischen dem ersten und zweiten Mauerring erstreckte. Darauf folgte ein weiteres, ungleich größeres und stärker bewehrtes Tor, auf dem eine türkisfarbene Kuppel saß wie der Helm eines Riesen. Die Gerüche waren auch hier kaum zu ertragen, aber zumindest ließ der Lärm nach, denn die Soldaten an beiden Torbastionen sorgten mit gezückten Säbeln und Lanzen dafür, dass niemand aus der Reihe tanzte oder lauter als nötig palaverte.
Unter dem Bogen des zweiten Tors musste Sinaida einem gelangweilten Soldaten ihr Begehr vortragen, und so erklärte sie ihm wahrheitsgemäß, sie sei hier, um eine Audienz beim Kalifen zu erbitten. Halb erwartete sie, der Soldat würde sie für solch eine Anmaßung fortjagen, sie zumindest aber müde belächeln, doch er nickte nur und winkte sie durch.
Sie betrat die Wohnviertel der Runden Stadt, jenen breiten, maßlos verbauten Teil zwischen der zweiten und dritten Ringmauer. Die Straße führte vom Tor schnurgerade zu den ummauerten Gärten im Zentrum. Zu beiden Seiten kündeten offene Räume in den Erdgeschossen von den Geschäften, di e s ich hier bis zu ihrer Umsiedlung vor die Mauern befunden hatten. In einigen hatten sich trotz des Verbots wieder Händler breit gemacht und priesen überschwänglich Gewürze, Weine, Schmuck und Stoffe an.
Der Zauber, den Bagdad in den Geschichten aus der Blütezeit des Abbasidenreichs besessen hatte, war dem Schatten eines unaufhaltsamen Niedergangs gewichen. Die Zahl der Bettler und Kranken schien hier noch höher zu sein als in den Vorstädten. In der Enge der Runden Stadt war der Gestank nach Fäkalien kaum zu ertragen, und die
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