Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
ihr das ganz besonders ins Auge. Auf dem Kopf trug er einen Hut, dessen breite Krempe mit Eis gepudert war.
Sein Gesicht konnte sie unter dem Hut von hier oben aus nicht erkennen. Er war ein groß gewachsener Mann, und trotz des hohen Schnees ging er mit weit ausgreifenden Schritten. Ganz offensichtlich kam er nicht zufällig hierher. Die Einzigen, die ihn geschickt haben konnten, waren die Mönche der Zisterzienserabtei, doch selbst mit einem Hinweis auf die grobe Richtung konnte es für einen Fremden nicht leicht sein, hierher zu finden.
Es sei denn, er wäre nicht zum ersten Mal hier.
Libuse wartete, bis er die Stufen unter der Turmtür erreicht hatte, dann rief sie ihn an: » He da, Wanderer! Wohin wollt Ihr? «
Er blieb am Fuß der Treppe stehen, und nahm seinen Hut ab. Mit der linken Hand klopfte er den Schnee von der Krempe, dann schaute er zu ihr auf. Viel konnte er auf diese Entfernung wohl nicht von ihr erkennen, denn nur ihr Kop f s chaute über die hölzernen Zinnen. Allerdings sah sie ihn, die eingefallenen Züge und den haarlosen Schädel. Sie fand, dass er aussah wie Gevatter Tod persönlich, so kahl und bleich über dem weiten Mantel.
» Du bist sicher Libuse «, erwiderte er. Vom nahen Waldrand ertönten Tierlaute, doch sie war nicht sicher, ob es Nachtschatten war, der dort noch immer über sie wachte.
» Ihr kennt meinen Namen? «
» Und den deines Vaters, Corax von Wildenburg. «
» So nennt mir den Euren, Herr! «
» Ich bin Albertus von Lauingen. Dein Vater und ich sind « – ein unmerkliches Zögern – » … alte Freunde. «
» Er hat Euch niemals erwähnt. «
» Das mag wohl angehen. « Täuschte sie sich, oder lächelte er? » Wärest du so freundlich, und würdest mich einlassen? Dein Vater ist doch daheim, oder? «
Der sonderbare Fremde war ihr nicht geheuer, und so entgegnete sie: » Gewiss ist er da. Aber ich muss ihm melden, was Ihr begehrt, bevor ich Euch einlasse. «
» Dann hat er dich gut erzogen, Libuse. Sag, wie alt bist du jetzt? Fünfzehn? Sechzehn? «
» Fast siebzehn «, gab sie zurück und fragte sich zugleich, weshalb sie das tat. Sie war ihm keine Antwort schuldig.
» Es würde sich leichter miteinander reden lassen, wenn ich mir nicht die Lunge aus dem Halse brüllen müsste. «
Noch einen Augenblick länger betrachtete sie ihn, unsicher, ob er sie verspottete. Er erwiderte ihren Blick ohne jede Regung. Abrupt wandte sie sich um und lief die Stufen hinunter zur Schlafkammer ihres Vaters.
Nach dem dritten Klopfen trat sie ein. Corax lag schnarchend unter einem Berg aus Fellen, das Gesicht zur Wand gedreht. Er hatte gestern Abend zwei Krüge Wein geleert, die er den Mönchen erst kürzlich abgekauft hatte. Beinahe, als hätte er geahnt, dass irgendetwas bevorstand. Als hätte er gewusst , dass die Fremden in den Wäldern früher oder später hier auftauchen würden. Und dass ihnen ein Teil seiner eigenen Vergangenheit folgte wie der Schweif einer Sternschnuppe.
» Vater! «, rief sie und schüttelte ihn.
Er grummelte etwas, ließ die Augen aber geschlossen.
» Vater! Da ist Besuch für dich! « Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das Wort » Besuch « zuletzt ausgesprochen hatte.
Schlagartig war er wach, und als sie ihm den Namen des Fremden nannte, schüttelte er sie ab wie einen lästigen Hund, sprang auf und steckte den Kopf in den Wassereimer neben dem Fenster. Mit triefendem Gesicht blickte er durch den schmalen Spalt hinaus, obgleich er doch wissen musste, dass er von hier aus die Treppe nicht einsehen konnte. In Windeseile war er angekleidet – Lederwams über ledernem Beinkleid, an Rücken und Brust mit Fell besetzt, dazu die dicken Stiefel, die er sonst nur zur Jagd trug. Zuletzt klappte er den Deckel einer Truhe zurück und hob Schwert und Gurt heraus, betrachtete beides eingehend, dann brummte er einen Fluch und legte die Waffe wieder zurück.
Libuse verlangte eine Erklärung, doch alles, was sie ihm entlocken konnte, war: » Ich kenne ihn von früher. Und er ist kein so guter Freund, wie er behaupten mag. «
Was ihre Sorge nicht gerade minderte.
Wenig später folgte sie ihm die Treppe hinunter in die Halle. Bevor er die Tür entriegelte, atmete er noch einmal tief durch.
Libuse trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. » Vater, warte. «
Er sah sie an, wie aus tiefem Schlaf gerissen.
» Wer ist er? «, fragte sie. » Wirklich, meine ich. «
Corax hielt ihrem Blick stand, wenngleich sie das Gefühl hatte, dass
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