Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Haupthaar war längst ergraut, doch der Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, war noch so schwarz wie während seiner Jugend. Nicht einmal Khur Shah wusste, wie lange diese Zeit zurücklag. Shadhan schien schon immer hier gewesen zu sein, ein Einsiedler in Alamuts Bibliothek, der erst auf Khur Shahs Wunsch hin dann und wann sein Reich aus Schriftrollen, Tonplatten und Büchern verlassen hatte, um ihm mit Rat zur Seite zu stehen.
» Womöglich ist es gar nicht nötig, sie zu überreden «, sagte der Gelehrte. Seine Stimme war angenehm leise und dunkel, vielleicht, weil sie viele Jahre lang kaum benutzt worden war. Unter der Herrschaft Mohammeds hatte Shadhan sich ganz seinen Studien gewidmet, eigene Schriften verfasst, die Philosophie und Gesetzgebung der Nizaris vertieft. » Mag sein, dass sie einsieht, dass eine Heirat viele Leben retten würde. Nicht nur auf unserer Seite. Kasim wird ihr klar machen, dass unsere Männer mühelos bis zu Hulagu und seinem Weib vordringen können, wenn sie es nur wollen. Das Mädchen hängt sehr an seiner Schwester, das haben unsere Spione im Lager herausgefunden. «
Khur Shah hatte langes gewelltes Haar, schwarz wie die sternenlose Nacht, und er überragte den Gelehrten um mehr als eine Haupteslänge. Jetzt schüttelte er missfallend den Kopf.
» Ich habe Kasim verboten, ihr zu drohen. «
Shadhan hob eine Augenbraue. » Das hättest du nicht tun sollen. Meine Empfehlung war eine andere. «
» Dein Rat war aus Vernunft geboren, nicht aus dem Herzen. «
» Dies ist keine Liebesheirat, vergiss das nicht. So sie denn überhaupt stattfindet. « Shadhan zwirbelte die Spitze seines Bartes zwischen Daumen und Zeigefinger. » Abgesehen davon – welchen Grund außer der Angst sollte sie haben, dein Weib zu werden? «
Khur Shah legte eine Hand auf die Zinnen. Der helle Stein Alamuts war kalt und rau unter seinen Fingern. Es fühlte sich an, als könnte keine Macht der Welt diese Mauern niederreißen. Und doch wusste er es besser. Alamut würde fallen, wenn die Ehe mit der Mongolenprinzessin nicht zustande kam. Er wusste es, Shadhan wusste es, und auch Kasim kannte die Schwere seiner Verantwortung.
» Selbst wenn sie annimmt «, sagte er, ohne auf die letzte Frage seines Beraters einzugehen, » könnte Hulagu es verbieten. Die Mongolen hassen uns Nizaris von ganzem Herzen. Und sie haben allen Grund dazu. Mein Vater hat ganze Arbeit geleistet. « Er sagte es so verächtlich, als spräche er von seinem schlimmsten Feind. Nicht Hulagu war für den Untergang der Nizaris verantwortlich. Der Kriegsfürst der Mongolen war nur das Unwetter, das den Palast zum Einsturz bringen würde. Die wahre Schuld trug Mohammed der Dritte, Khur Shahs Vater. Es war eine Sache, die Herrn der arabischen Herrscherhäuser durch gezielte Mordanschläge einzuschüchtern und zu beeinflussen; den Großkhan im fernen Karakorum töten zu wollen, nur um zu beweisen, dass man die Macht dazu besaß, war etwas anderes. In seinem Wahn hatte Mohammed nicht mehr erkannt, welche Folgen ein solcher Anschlag nach sich zog.
Shadhans Blick verengte sich, als könnte er mit bloßen Augen die Prinzessin und Kasim im Ameisengewimmel des Heerlagers erspähen. » Das Mädchen muss seine Schwester überzeugen. Wenn sie Doquz auf ihrer Seite hat, dann wird auch Hulagu nachgeben. Unterschätze niemals die Macht der Weiber. «
Khur Shah wandte sich mit einem Seufzen ab, ging mit weiten Schritten den Wehrgang entlang und stieg eine Treppe hinab zum Innenhof der Festung. Er und Shadhan hatten dieses Gespräch schon mehrfach geführt, und jedes Mal fühlte er sich zum Schluss wie ein dummer Junge, dem von dem älteren Weisen die Welt erklärt worden war. Alles, was Khur Shah über die Prinzessin wusste, war das, was seine Spione im Lager herausgefunden hatten: Dass sie nach dem jahrelangen Kriegszug durch die Länder des Ostens genug hatte von all dem Blutvergießen; dass sie eine geschicktere Kriegerin war als mancher Mann im Lager, ihre Fähigkeiten jedoch nur selten in der Schlacht einsetzte; und dass sie ihre Schwester Doquz abgöttisch liebte und in gewisser Weise wohl auch Hulagu, ihren Schwager. Shadhan hatte gleich erkannt, dass sie die perfekte Stelle war, an der sie den Hebel ansetzen konnten.
Die Nizaris, die Khur Shah auf seinem Weg über den Hof passierte, senkten demütig die Blicke. Männer und Frauen trugen hellbraune Kampfkleidung: luftige Pluderhosen, darüber ein langes Hemd und eine enge Jacke. Alles bestand aus
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