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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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festem Stoff und war mit zahlreichen Taschen, Futteralen und Schlingen versehen, in denen die Nizaris bei ihren Einsätzen Waffen und Instrumente zum Erklimmen von Wänden trugen. In ihre Ärmel waren Metallplättchen eingenäht, mit denen sie leichte Schwerthiebe abwehren konnten. Auf ihren Rücken hingen enge Kapuzen, die sie bei Bedarf blitzschnell überziehen konnten; dünne Schals, die sie sich bis unter die Augen zogen, machten sie einander gleich, eine Taktik, die unter anderem dazu diente, vor Feinden die genaue Zahl der Gegner zu verschleiern. Das blasse Braun des Stoffs ließ sie tagsüber mit den Felsen verschmelzen. Bei Nacht trugen sie Schwarz. Ihre Lederschuhe waren weich und nahezu gewichtslos, damit sich ihre Füße beim Klettern an Stein und Holz mühelos dem Untergrund anpassen konnten.
    Nizaris vermochten jede Höhe zu überwinden. Von Kind an wurden sie zu vollendeten Kletterern und geräuschlosen Eindringlingen erzogen. Überall in der arabischen Welt war man überzeugt, Nizaris besäßen die Macht, an Wänden entlang und sogar unter Decken zu laufen. Die Söhne und Töchter des Alten vom Berge taten alles, um diese Gerüchte zu nähren und – soweit eben möglich – in die Tat umzusetzen.
    Ihre schonungslose Ausbildung begann schon während der ersten Lebensjahre. Es gab hunderte Übungen, Regeln und harte Strafen, denen die Nizarikinder unterzogen wurden. So war es seit den Tagen Hassan-i-Sabbahs gewesen, und seine Nachfolger hatten keinen Grund gesehen, irgendetwas daran zu verändern. Sie waren die gefürchtetsten Meuchelmörder des Orients, und als Assassinen kannten sie sogar die Ungläubigen im Abendland. Sie arbeiteten mal im eigenen Interesse, dann wieder im Auftrag mächtiger Herrn. In den Palästen de r S ultane und Kalifen flüsterte man ihren Namen ehrfurchtsvoll. Kein Herrscher, der sie nicht fürchtete; keiner, der sich nicht wünschte, über eine ähnlich schlagkräftige Truppe zu gebieten.
    Die Nizaris blieben für andere schwer zu durchschauen. Ismailis waren sie, treue Anhänger der Imame, und doch waren die zweieinhalb Jahrhunderte ihrer Schreckensherrschaft über das Elburzgebirge und die umliegenden Länder voller Rätsel. Manchmal waren sie käuflich, ein anderes Mal beantworteten sie Angebote mit dem abgeschlagenen Schädel des Bittstellers.
    Khur Shah hatte ein Erbe angetreten, das von Grausamkeit, Menschenverachtung und einer undurchschaubaren Fülle halb vergessener Gesetze gezeichnet war. Er war Ismaili wie sein Vater, wartete wie er auf die Wiederkehr des Imam und empfand tiefste Liebe zu Allah. Er hatte immer gewusst, dass er die Gemeinschaft nur in die Zukunft führen konnte, wenn er die Aura der Angst, die sie umgab, aufrechterhielt. Jedes Nachgeben, jedes Zeichen von Schwäche hätte ein Dutzend Todfeinde auf den Plan gerufen. Es war ein verhängnisvoller Kreislauf: Jedes Abweichen von den Vorgaben Hassan-i-Sabbahs, jeder Versuch eines Rückzugs aus dem Geschäft mit Mord und Furcht würde unweigerlich im Untergang der Nizaris resultieren.
    Alles war gut gegangen, bis die Mongolen kamen. Eine Streitmacht so groß, dass selbst die Nizaris ihr unterliegen mussten. Hunderttausend Ameisen können einen Tiger töten. Aber falls es wirklich eine Möglichkeit gab, die letzten Frauen, Kinder und Männer in den Mauern Alamuts vor dem Tod zu bewahren, würde Khur Shah sie ergreifen. Ob das den Verlust seiner Freiheit oder gar sein Ende bedeutete, spielte für ihn keine Rolle. Er war bereit, für diese Menschen zu sterben.
    Eine Hochzeit, wie Shadhan sie ausgeheckt hatte, war nicht einfach das Versprechen einer Ehe. Sie bedeutete, im Stau b v or dem Thron des Khans zu kriechen und die Allmacht der Mongolen anzuerkennen, gar Teil ihrer Horde zu werden, ihres barbarischen Lebens, ihrer Sitten – auch Sinaidas Volk, den Keraiten, war es einst nicht anders ergangen. Und es mochte bedeuten, dass Khur Shah seine Leute verlassen musste und nach Karakorum gerufen wurde, um beim Großkhan persönlich um Gnade und um Vergebung für die Verfehlungen seines Vaters zu bitten.
    Zu alldem war Khur Shah bereit, wenn er damit jene retten konnte, die ihr Leben in seine Hände gelegt hatten. Sein Stolz, sein Glaube, seine inneren Überzeugungen – er war willens, sich selbst zu verraten, wenn er damit die Gnade ihrer Feinde erkaufen konnte.
    Die Menschen, die in der Festung Alamut Zuflucht gesucht hatten, wussten noch nicht, auf welche Weise ihr Herr sie zu retten gedachte. Sie kannten den

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