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Das Büro

Das Büro

Titel: Das Büro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.J. Voskuil
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die Hände. „Wenn ich mit meinen Studenten einen Fall behandle, hole ich mir immer die Akte dazu!“
    „Und weiß man dann mehr über ihn? Das Einzige, was man dort findet, sind die Klischees, mit denen ein anderer ihn belegt.“
    „Man muss die Akten hinzuziehen!“, unterbrach ihn Karel. „Man kann sich nicht so einfach in jemanden hineinversetzen, der einen Mord begangen hat! Das kann keiner! Man muss die Fakten kennen! Und die kenne ich, wenn ich die Akten habe.“
    „Die Fakten kenne ich auch. Er hat eine Scheißjugend gehabt. Derzeit hat jeder, der etwas getan hat, eine Scheißjugend gehabt.“
    Die Antwort belustigte Karel. „Aber es ist eine Tatsache!“, sagte er lachend. „Sie waren alle bis zu ihrem vierten Lebensjahr Bettnässer!“
    „Na bitte!“, sagte Maarten triumphierend. „Du liest in den Akten, was in Mode ist, und benutzt es anschließend, um deine Studenten zu verblüffen. Du benutzt deine Akten als Autorität!“
    „Nein, nein!“, rief Karel, federte hoch und zeigte auf Maarten. „Ich gebe gern zu, dass die Akten nicht viel wert sind, noch viel weniger als du glaubst! Aber man weiß zumindest etwas! Sagen wir, null Komma ein Prozent! Ohne Akten sind es null Prozent!“
    „Diese null Komma ein Prozent sind Interpretation“, ließ Maarten nicht locker. „Du bist den Ärger los, aber mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Es ist völlig unmöglich, sich in jemanden hineinzuversetzen. Man kann sich selbst in ihn hineinprojizieren, und auf diese Projektion gründest du dann wiederum dein Urteil.“
    „Aber es ist nun einmal gerade so, dass ich mir niemals ein Urteil bilde!“, rief Karel verzweifelt und schwang die Arme nach oben. „Das ist auch so etwas! Ich bleibe immer unsicher über den Wert eines Menschen! Ich bin kein Psychiater! Du glaubst, dass ich ein Psychiater bin! Das Einzige, was ich beurteilen kann, ist die Situation! Man hat diese oder jene Situation! Und hier hat man einen Jungen, der mit sechzehn einen Mord begangen hat, und das ist schrecklich! Tu was dagegen! Sprich darüber! Versuche den Jungen mit seiner Schuld zu versöhnen! Das ist Recht!“
    „Aber du kannst diesen Jungen überhaupt nicht mit seiner Schuld versöhnen. Er versteht es selbst nicht. Glaubst du denn, dass ein sechzehnjähriger Junge weiß, was Todesangst ist? Das weiß er erst, wenn er fünfunddreißig oder fünfundvierzig ist. Ein Mord im Alter von fünfunddreißig ist etwas ganz anderes als einer mit sechzehn. Je älter er wird, desto weniger wird er es begreifen. Er kann es verdrängen. Aber begreifen?“
    „Ja, Todesangst!“, rief Karel. „Was ist das nun wieder? Warum muss jetzt auch noch Todesangst dazukommen? Ich weiß nicht einmal, was das ist, Todesangst! Warum sollte ich es dann bei diesem Jungen verstehen? Vor ein paar Tagen noch! Vor ein paar Tagen habe ich den Film über die Beerdigung van Gasterens gesehen! Weißt du, was ichdachte? Weißt du, was ich dachte? Ich dachte: Ich wollte, ich läge dort! Keine Angst mehr vor der Atombombe und all dem anderen Elend, das uns droht!“
    Maarten begann laut zu lachen. Das brachte Karel aus dem Konzept. Er sah Maarten verdattert an und schmunzelte. Dann erinnerte er sich offenbar daran, dass Nicolien auch da war, denn er sah sie an. „Willst du vielleicht ein Gläschen Wein?“ Er stand auf und ging in das hintere Zimmer. Maarten hörte ihn den Telefonhörer abnehmen und eine Nummer wählen. Im darunterliegenden Zimmer klingelte das Telefon, und er hörte gedämpft Beertas Stimme. „Kommst du noch?“, fragte Karel. Die Stimme gab eine unverständliche Antwort. „Dann leg das mal eben zur Seite. Das hier ist wichtiger als deine Arbeit.“ Die Stimme antwortete wieder. Karel lachte herzlich. „Das wirst du dann schon hören. Bis gleich.“ Er legte den Hörer auf, verschob etwas und kam mit einem normalen Armsessel wieder herein. „Beerta kommt auch noch“, er stellte den Sessel zwischen seinen eigenen und den von Maarten, „aber nicht lange, denn er muss noch arbeiten.“ Es klang amüsiert. Er ging wieder in den hinteren Raum. Maarten stand auf und sah sich im Bücherregal um. Im Hinterzimmer wurde die Flasche entkorkt. Die Treppe knarrte. Maarten drehte sich um und sah zur Tür. Beerta kam herein. Er blinzelte nervös, als er Maarten stehen sah. „Ihr kennt einander, oder?“, scherzte Karel, als er mit dem Wein und der Schale mit dem Käsegebäck hereinkam. Beerta nickte steif, spitzte die Lippen und gab Nicolien die Hand.

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