Das Büro
„Tag, N-nicolien.“ Er nickte Maarten zu. „Tag, Maarten.“ Karel kam mit vier Gläsern und dem Schälchen mit Erdnüssen aus dem Hinterzimmer. Beerta setzte sich.
„Es fehlte nur wenig, und ich hätte der D-diskussion w-wortwörtlich folgen können“, sagte er.
„Karel will ein Buch über Boudewijn H. schreiben“, sagte Maarten.
„Ja?“ Beerta hob die Augenbrauen und sah Karel fragend an.
„Das ist ja was!“, rief Karel aufgeregt. „So entstehen Gerüchte! Der Fall Boudewijn H. ist einer von mehreren Fällen! Ich schreibe keine
case stories
! Dann könnte ich gleich neunzigtausend
case stories
schreiben!“ Er schenkte den Wein in die Gläser. Bei Beertas Glas hielter die Flasche kurz hoch. „Du auch, Anton? Oder willst du lieber Genever?“
„Gib mir auch mal Wein“, sagte Beerta knapp. Er saß aufrecht in seinem Sessel, höher als die anderen, und machte in diesem glatten, modernen Raum einen etwas entwurzelten Eindruck.
„Was schreibst du denn?“, fragte Maarten.
„Ein theoretisches Werk.“
„Das Beschreiben eines konkreten Falls ist der beste Weg, eine Theorie zu verkaufen“, meinte Maarten, „das fand ich auf der Sonntagsschule auch schon.“
„Das höre ich zum ersten Mal, dass du auf der Sonntagsschule gewesen bist“, sagte Beerta amüsiert.
„Haben Sie das nie gemerkt?“, fragte Maarten.
Beerta schmunzelte.
„Prost!“, sagte Karel und hielt sein Glas hoch.
Sie hoben ihre Gläser und nahmen alle vier einen Schluck, worauf Beerta und Karel ihre Gläser noch einmal erhoben, ein Ritual, das Maarten und Nicolien nicht kannten.
„Und was willst du damit dann erreichen“, fragte Maarten, der den Gesprächsfaden wieder aufgriff, „wenn du keinen konkreten Fall behandelst?“
„Erreichen? Erreichen? Letztendlich will ich natürlich das Bewusstsein verändern, wer möchte das nicht?“
„Die Menschen bessern“, brachte es Maarten auf den Punkt.
„Nicht bessern!“, rief Karel aus. „Das geht schon lange nicht mehr! Das ist eine völlig veraltete Vorstellung! Das haben sie früher geglaubt, ja! Schuld! Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, muss man ihm die adäquaten Schuldgefühle vermitteln! Ob er nun acht oder zehn Jahre bekommt, das ist egal! Wenn er nur Einsicht in seine Strafe aufbringt. Einsicht, darum geht es!“
Maarten lachte. „Ach, hör doch auf. Schuld ist nichts anderes als der Konflikt zwischen einem Charakter und seiner Umgebung.“
„Na, hör mal“, fiel Karel ihm ins Wort, „sprich jetzt bitte nicht über diesen veralteten Begriff des Charakters, sag lieber: der Mensch
an sich
!“
„Dann eben Persönlichkeitsstruktur.“
„Das ist schon etwas besser.“
„Schuld ist also nichts anderes als ein Konflikt zwischen der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen und seiner Umgebung“, wiederholte Maarten. „Derselbe Mörder ist unter anderen Umständen oder in einer anderen Umgebung plötzlich kein Mörder, weil sein Mord gebilligt wird. Es hängt also von der Gesellschaft ab.“
„Da haben wir es wieder!“ Verzweifelt hob er die Arme hoch. „Die Gesellschaft ist an allem schuld! Das Dogma, mit dem der Sozialismus uns zu tyrannisieren versucht.“
„Ich sage nicht, dass die Gesellschaft schuld ist“, unterbrach ihn Maarten. „Ich will damit nur sagen, dass das Vermitteln adäquater Schuldgefühle geistiger Zwang ist.“
„Der Sozialismus!“, rief Karel. „Der Sozialismus ist geistiger Zwang!“
„Karel!“, warnte Beerta lächelnd. „Denk doch an die Nachbarn!“
„Ja, weil du auch ein Sozialist bist!“, sagte Karel grinsend. „Das willst du natürlich nicht hören.“
„Das Individuum muss sich der Gemeinschaft anpassen“, sagte Beerta steif.
„Natürlich muss sich das Individuum der Gemeinschaft
nicht
anpassen“, sagte Maarten irritiert. „Das Individuum muss sich überhaupt nicht anpassen! Es muss für seine Eigenarten einstehen! Wenn man ein Mistkerl ist, bleibt man ein Mistkerl, auch wenn einem Schuldgefühle eingeredet werden. Man wird dann höchstens ein heuchlerischer Mistkerl! Wenn man jemandem Schuldgefühle einredet, nimmt man quasiphilosophische Polizeiaufgaben wahr! Man hat keine Schuldgefühle zu haben!“
„Und der Mann, der morgens Streit mit seiner Frau gehabt hat und abends eine Blume mitbringt, hat der denn etwa keine Schuldgefühle?“, fragte Karel.
Maarten lachte. „Das ist doch kein Beispiel.“
„Nun, dann ein anderes Beispiel!“ Er schwang seinen Arm hin und her. „Jemand, der
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