Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
versucht, die Wahrheitsfrage mit Gewalt zu klären. Dreißig Jahre verschwendet Europa, dreißig lange Jahre bekriegen sich die Konfessionen, um der eigenen und vermeintlich einzigen Wahrheit gewaltsam zu ihrem Recht zu verhelfen, bis alle Beteiligten zur Vernunft kommen und einsehen: Mit Gewalt geht es nicht. Es gibt kein Zurück in die Vorreformation. Die Existenz zweier einander widersprechender Wahrheiten ist ein unabänderliches Faktum. Damit muss die Welt von jetzt an leben.
Diese wiederum fragt sich: Wenn es zwei Wahrheiten gibt, sind dann nicht auch drei möglich, vier, fünf, viele? Wie können wir uns Gewissheit verschaffen über das, was wirklich ist? Und die Antwort lautet: durch Wissenschaft. Ein Herrschafts- und Paradigmenwechsel findet statt. Die Zuständigkeit für die Welterklärung geht von der Kirche auf die Wissenschaft über. Auch über die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens wird jetzt nach weltlichen Maßstäben entschieden.
Die Grundlagen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa werden gelegt. Europäische Auswanderer wagen einen neuen Exodus, besiedeln den amerikanischen Kontinent und legen, ohne dass sie das anstreben oder auch nur ahnen, das Fundament für den Aufstieg der USA zur führenden Weltmacht des 20. und wohl auch des 21. Jahrhunderts.
Wären all diese Entwicklungen denkbar ohne die Exodustradition des Aufbruchs zu neuen Ufern? Ohne die Kritik der Verhältnisse? Ohne den permanenten Drang, das Bestehende zu überwinden, das Gute zu verbessern und das Schlechte zu zerstören, um Platz zu machen für das Neue? Ohne den Glauben an eine linear verlaufende, den technisch-wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt herbeiführende Zeit? Ohne den Auftrag, sich die Erde untertan zu machen? Sollte es wirklich Zufall sein, dass sich die Grenzen der demokratisch-rechtsstaatlichen Welt ziemlich genau mit den Grenzen jener Länder decken, in denen die Kirchen und Synagogen stehen?
Diese Fragen zu bejahen, erscheint noch immer als gewagt, darum muss jetzt – nach Monotheismus, dem neuen Verhältnis zur Zeit, der Bedeutung von Vernunft und Glaube und dem aufklärerischen Potenzial des jüdisch-christlichen Glaubens – die fünfte wichtige Innovation genannt werden, um die These zu erhärten, dass Abraham, der Mann aus dem Morgenland, einer der Gründerväter des christlichen Abendlandes ist. Denn schon sein Auszug war ein Zeichen seiner Kritik am System. Aus ihr entwickelt sich die prophetische Sozialkritik.
Sie dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, dass sich vom jüdisch-christlichen Glauben eher die armen und einfachen Menschen angezogen fühlten als die gebildeten und wohlhabenden. Sie zählt zu den revolutionärsten und geschichtlich folgenreichsten Kennzeichen des jüdisch-christlichen Glaubens. In Israel durfte es keine Armen geben. Gott und die Propheten rechneten es dem Volk als Versagen an, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnete. Das tat sie oft, aber es wurde scharf kritisiert.
Immer wieder ist die Forderung nach Gleichheit, einem menschenwürdigen Leben und Wohlstand für alle in den Hintergrund gedrängt worden in Israel. Immer wieder mussten die Propheten das Volk und die Könige daran erinnern. Später haben zahlreiche Mönchsorden und Heilige die Erinnerung daran bewahrt. Die bischöflichen und fürstbischöflichen Herren der Großkirche hingegen haben dem Auftrag, für gerechte Verhältnisse zu sorgen, vom Beginn der Zwangschristianisierung an immer weniger Beachtung geschenkt.
Das Ergebnis war, dass sich die Unterdrückten und Ausgebeuteten irgendwann selbst ihr von Gott verbrieftes Recht erkämpften, ohne die Kirche und gegen die Kirche, durch Revolution und den Schlachtruf «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Spätestens jetzt hätte die Kirche aufwachen und sich grundlegend ändern müssen. Aber sie hatte sich schon so weit vom Evangelium entfernt, dass sie die Berechtigung des Volksbegehrens nicht mehr erkannte, nur ihre Macht und ihre Pfründe bedroht sah und sich ungerecht behandelt fühlte.
Sie hätte noch einmal die Chance zur Kursänderung gehabt, als zu Beginn der industriellen Revolution die Arbeiter massenhaft ausgebeutet wurden und unter unwürdigen Bedingungen malochen mussten. Aber es war nicht der Papst, der das Elend des Proletariats sah, es war Karl Marx. Und erst, als die Leute massenhaft aus der Kirche in die Arme der Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften flüchteten, reagierte
Weitere Kostenlose Bücher