Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
von Anfang an den Doppelnamen Saulus Paulus. Nur Lukas nennt ihn anfänglich Saulus, und später – nicht im Zusammenhang mit Damaskus – führt er beiläufig den Namen Paulus ein und bleibt bei diesem Namen. Paulus selbst nannte sich in seinen Briefen immer nur Paulus.
Paulus also fiel es wie Schuppen von den Augen – er musste intensiv über die Verrücktheit der Christen nachgedacht haben, einen Kreuzestoten als Messias anzubeten, und dabei kam ihm die Erleuchtung, die Erkenntnis der Wahrheit: Ja, genauso verhält es sich, Gott konnte unmöglich den typisch menschlichen Vorstellungen von einem Messias entsprechen. Ein Triumphator, der vom Himmel steigt, wäre nicht der wahre Gott, sondern nur die Bestätigung menschlicher Projektionen. Diese zu bedienen, hätte nur nationalistisches Triumphgeheul unter den Juden hervorgerufen. Sie hätten sich als Sieger gefühlt und alle anderen als Verlierer behandelt, und statt Frieden hätte es neuen Unfrieden gegeben. Gott musste am Kreuz sterben, damit endlich Frieden einkehrt unter den Völkern und die Menschen erkennen, wie der wahre Gott wirklich ist. In Jesus hatte sich Gott erneut offenbart, darum ist der Zimmermannssohn Jesus, der Provinzler aus Nazareth, der Sohn Gottes.
Paulus tut, was Juden schon immer tun: Er deutet die Geschichte. Da war ein Ereignis, die Kreuzigung. Und da war ein zweites Ereignis, die Weigerung seiner Anhänger, sich geschlagen zu geben. Und da waren drittens Menschen, die ihr Leben radikal änderten – wegen dieses Menschen Jesus, dem alle nachsagten, dass er ein besonderes Gottesverhältnis gehabt und Gott außergewöhnlich gut verstanden haben musste. Deshalb war dieser Jesus ein Gottessohn, der Messias.
Paulus interessiert wenig, wie Jesus vor seinem Tod gelebt hat, was er gelehrt, gesagt und getan hat. Er hätte die Chance gehabt, Jesus’ Weggefährten Petrus, Jakobus oder Johannes auszufragen über dessen Leben. Wenn er es getan haben sollte, so hat er es nicht aufgeschrieben. Da er ja sonst viel schrieb, muss man schließen: Ob er nun über das Leben Jesu Bescheid wusste oder nicht, es war ihm unwichtig. Paulus interessiert sich nicht für Jesus, sondern für Christus. Wichtig war Paulus allein der Kreuzestod und die Bedeutung, die er ihm beimaß. Für Paulus war dieses Sterben am Kreuz ein weltgeschichtliches Ereignis, weil es Gott war, der da starb.
Diese für ihn sensationelle Tatsache treibt Paulus nun an, sie im ganzen Römischen Reich bekannt zu machen. In Jerusalem und Judäa tun das die Jünger Jesu, dort wird er nicht gebraucht, also reist er im Rest der Welt umher, und immer begibt er sich zunächst in die vielen im ganzen Reich existierenden jüdischen Gemeinden, in die Synagogen, gewinnt dort auch Anhänger, tauft sie, aber macht eine seltsame Erfahrung: Was er zu erzählen hat, stößt bei den angeblich unverständigen Heiden auf offenere Ohren und wird besser begriffen als bei den scheinbar verständigen Juden, die es doch leichter hätten begreifen müssen, weil diese Botschaft eigentlich für sie bestimmt war. Paulus tauft wesentlich mehr Heiden als Juden.
Vermutlich wäre das heute nicht anders, wenn Jesus wiederkäme. Wahrscheinlich fände er bei den der Kirche Fernstehenden, den Ausgetretenen und Ungetauften mehr Gehör und mehr Verständnis als bei den kirchlichen Insidern und Klerikern, die im Ernst gar nicht mehr damit rechnen, dass Jesus wiederkommen könnte, und sich von ihm sehr gestört fühlten, wenn er es dennoch täte. Im Lauf von zwei Jahrtausenden hat sich die christliche Dogmatik wie ein babylonischer Turm so in die Höhe geschraubt, dass zwischen den Klerikern in der Spitze des Turmes und dem gemeinen Volk an der Basis kaum noch eine Verbindung besteht. Die Kleriker hatten auch nie den Versuch unternommen, das Volk mitzunehmen auf ihre Höhe.
Für die Kleriker da oben ist es ein Leichtes, aus ihrer in Jahrtausenden entwickelten Mechanik des Glaubens den Zölibat oder das Verbot der Pille dogmatisch abzuleiten. Unten, am Eingang des Turms, ist das dem davorstehenden Volk nicht mehr zu vermitteln. Oben hängen die Kleriker an ihrem Abendmahlsverständnis, dem Zölibat, dem Pillenverbot, der Nichtzulassung von Frauen ins Priesteramt und an staatlich gewährten Privilegien mit derselben Leidenschaft, wie einst die Juden an der Beschneidung, ihren Speisegeboten, Sabbatregeln, rituellen Waschungen und den diversen Tempeldiensten gehangen haben.
Es bedurfte eines Paulus, um diese geheiligten,
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