Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
traditionsbeladenen, einst identitätsstiftenden jüdischen Gepflogenheiten als das zu entlarven, was heute deren christliche Entsprechungen sind: hohle Form, bloße Äußerlichkeiten, leeres Brauchtum, konsequenzlose Lehre, die für das Leben der Menschen damals so belanglos waren, wie sie es gegenwärtig für die Menschen in dieser Welt sind. Ob christliche Gottesdienste heute in deutscher oder lateinischer Sprache gehalten werden, ist für die weitere Entwicklung in Deutschland vollkommen unerheblich. Ob Kruzifixe in den Klassenzimmern hängen oder ob es einen Gottesbezug in einer noch zu schreibenden europäischen Verfassung gibt, hat auf den Lauf einer von den internationalen Finanzmärkten gesteuerten Welt keinerlei Einfluss. Paulus, wenn er heute wiederkäme, würde sich nicht um die Sonntagsheiligung und die Liturgie kümmern, sondern um die Alltagsheiligung und um eine Umkehr der Getauften. Das Ergebnis wäre ein von Grund auf verändertes Wirtschaftsleben, in dem die Arbeit ihre Würde zurückbekäme und das Kapital wieder zum Dienst am Ganzen verpflichtet würde. In den weltentrückten Dogmatiken unserer Kirchturmgelehrten aber kommt der Alltag der gewöhnlichen Menschen nicht mehr vor.
Christliche Dogmatiken, von Schriftgelehrten am Ende eines langen in Hörsälen und Bibliotheken verbrachten Forscherlebens aufgezeichnet und als mehrbändige Folianten zu den anderen Folianten gestellt, sind heute für einen Normalbürger komplett unverständlich. Sie sind auch nicht für ihn geschrieben, sondern für nachfolgende Theologengenerationen produziert, auf dass diese etwas haben, womit sie sich beschäftigen, die eigene Karriere aufbauen und diese mit einer weiteren Dogmatik krönen können. Dogmatiken sind eine der Theologenzunft gemäße Form der Beschäftigungstherapie. Daher muss wohl, wer heute dem Volk und nicht den Professorenkollegen die Botschaft von Jesus nahebringen will, selbst einer von unten sein, der sich das Eigentliche der christlichen Botschaft nicht im theologischen Oberseminar erarbeitet, sondern es durch sein Leben mitten in der Welt intuitiv erfasst hat, so wie der Fischer Petrus und der Zeltmacher Paulus.
Petrus und Paulus hatten Jesus begriffen, und was sie begriffen hatten, gaben sie weiter. Aber nur das einfache Volk und die dogmatisch unbelasteten Heiden haben die Botschaft verstanden. Zur politisch-religiösen Obrigkeit drang sie nicht mehr durch. 1200 Jahre Dogmengeschichte und theologische Gelehrsamkeit standen dazwischen. Für die Heiden war es leichter. So konnte gerade die fremde Welt des Hellenismus durch die Vermittlung des getauften jüdischen Pharisäers Paulus, der die römische Staatsbürgerschaft besaß und griechisch sprach, zum großen Resonanzboden für die Botschaft des aramäisch sprechenden Juden Jesus werden.
Nach seiner Taufe suchte Paulus sich verschiedene Mitarbeiter, die ihn auf seinen Missionsreisen begleiteten. Die biblischen Quellen (Paulusbriefe und Apostelgeschichte) nennen Barnabas, Erastus, Silas, Timotheus und Titus. In großen Städten, wie Philippi, Korinth, Thessalonich oder Ephesus, ließ er sich eine Zeit lang nieder, predigte und taufte, gründete Gemeinden, und sobald er das Gefühl hatte, dass eine neugegründete Gemeinde sich selbständig organisieren und auch missionieren konnte, brach er auf in die nächste Stadt und hielt von dort Briefkontakt zu den bereits bestehenden Gemeinden. Seinen Beruf des Zeltmachers übte er auch weiterhin aus, um den Gemeinden nicht auf der Tasche zu liegen.
Mehrmals wurde er, wie es sich damals für einen ordentlichen Christen gehörte, ins Gefängnis geworfen, mal in Philippi, mal in Ephesus oder in der Provinz Kleinasien. Fast zwanzig Jahre lang beackerte er die östlichen Regionen des Mittelmeerraums von Antiochien bis Korinth, gründete Gemeinden in ganz Kleinasien, Mazedonien und Griechenland. Auch er verfolgte kaum die Absicht, eine Kirche oder eine neue Religion zu gründen. Er wurde nur umgetrieben von diesem Kreuzesereignis und dessen Bedeutung. Das allein wollte er erzählen.
Aber durch dieses ständige Erzählen und durch die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen auf seine Erzählungen wurde Paulus in eine Dauerreflexion gezwungen, die irgendwann dazu führte, dass er Jesus besser verstand, als seine Jünger ihn verstanden hatten, vielleicht sogar besser, als Jesus sich selbst verstanden hatte. Aus diesem Verständnis heraus überwand er die durch die jüdische Tradition angelegte Engführung
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