Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
seinen Instinkten zu lösen, Zusammenhänge zwischen seinem Tun und dessen Folgen zu erkennen, Prioritäten zu setzen, um höherer Ziele willen bestimmte Handlungen zu unterlassen oder aufzuschieben und andere zu forcieren. Der Mensch erfuhr sich als ein Wesen, das wählen, das sich in jeder Situation so oder auch anders entscheiden konnte. Das war der unschuldige Mensch im Paradies – bis er zum ersten Mal leichtfertig etwas tat, von dem er wusste, dass er es eigentlich nicht tun sollte, und es dennoch tat, und von da an immer wieder.
Von diesem Moment erzählt die Geschichte des Sündenfalls. Adam und Eva im Paradies hatten den ganzen Garten Eden zu ihrer freien Verfügung. Von allen Früchten des Gartens durften sie essen, nur von den Früchten eines einzigen Baumes nicht. So beschreibt die Bibel den Menschen als frei innerhalb einer von Gott gesetzten Grenze. Adam und Eva konnten sich entscheiden, ob sie die Grenze respektieren oder lieber den Einflüsterungen der Schlange nachgeben wollten.
Haben sie sich bewusst für die Übertretung des göttlichen Gebots entschieden? So, wie es die Bibel erzählt, sind sie wohl eher unbekümmert in diese Grenzverletzung hineingeschlittert: Als nun das Weib sah, dass von dem Baume gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen und ein wertvoller Baum wäre, weil er klug machte, da nahm sie von dessen Frucht und aß und gab zugleich auch ihrem Mann davon, und er aß. (1 Mose 3, 6)
Ohne vorher groß darüber zu diskutieren, ob man es riskieren sollte oder nicht, ließen sie sich in stillschweigender Übereinkunft zu dieser, wie sie vielleicht meinten, kleinen Grenzverletzung hinreißen, die Folgen nicht abwägend – wird schon nicht so schlimm sein. So denkt von damals bis heute jeder, der in leichtfertiger, vielleicht sogar in gedankenloser Weise tut, wovon er weiß, dass er es lieber lassen sollte.
Und dabei macht man dann die Erfahrung, dass der kleine Regelverstoß keine unmittelbaren Folgen zu haben scheint. Wie damals im Paradies. Adam und Eva müssen nicht, wie von Gott angedroht, sterben, sondern werden nur zur Rechenschaft gezogen. Aber statt zu ihrer Verantwortung zu stehen, schieben sie die Verantwortung ab, keiner von beiden will schuld sein. Adam sagt: Eva war’s. Eva sagt: Die Schlange war’s. Und da erst haben sie das Paradies verwirkt, werden hinausgeworfen und zu einem Leben verurteilt, das karg, mühselig, hart und schmerzlich sein und mit dem Tod enden wird, denn der Tod ist der Sünde Sold (Römer 6, 23).
Dieses einmalige Versagen aus Leichtsinn wäre noch keine Tragödie, zur Tragödie wird die Sache erst, weil ein Versagen das nächste nach sich zieht. Jedes mag für sich genommen geringfügig erscheinen, aber in der Summe baut sich so im Lauf der Zeit eine Wirklichkeit auf, die sich immer weiter vom Paradies entfernt und in der Hölle endet. Die einzelnen Fehler addieren sich zu größeren Schuldzusammenhängen, sündhafte Strukturen bauen sich auf, die ursprünglich gute Ordnung zerfällt. Schon die nächste Generation weiß nichts mehr davon, wird in die mittlerweile aufgebauten Schuldzusammenhänge hineingeboren, empfindet die vorgefundene menschliche Unordnung als natürlich und normal und passt sich ihr an, verhält sich entsprechend und baut weiter an den Sündenstrukturen. So kommen die Kinder zwar unschuldig auf die Welt, aber nicht unbelastet. Kaum geboren, ja oft schon vor ihrer Geburt, wirken sich die diversen Schuldstrukturen auf das Leben der Kinder so aus, dass diese sich wie von selbst am weiteren Ausbau der Schuldzusammenhänge beteiligen und unmerklich ihre Unschuld verlieren.
Zwischen der ersten Grenzverletzung und dem ersten Mord liegt nur eine Generation. Kain erschlägt seinen Bruder Abel, und von nun an reißt die Kette der Gewalt nicht mehr ab.
Einmal gestiftetes Unheil wirkt fort und fort, auch wenn dessen Urheber schon längst gestorben sind. Man denke nur an jene israelischen Kinder, deren Leiber durch palästinensische Selbstmord-Attentäter zerfetzt wurden, oder man denke an jene israelischen Eltern, die jeden Tag darum bangen, dass der Schulbus ihre Kinder heil nach Hause bringt. Und zugleich müssen wir an jene palästinensischen Kinder denken, die bei jeder israelischen Vergeltungsaktion verletzt, verstümmelt oder getötet werden. Diese endlose Spirale des Hasses und der Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung, dieser schier unlösbare Unheilszusammenhang wurzelt in ganz anderen, zeitlich weiter
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