Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Autoren der Bibel weigern sich, dieses Problem zu beschönigen oder gar zu leugnen. Sie sehen den Menschen, wie er wirklich ist. Diese gnadenlos realistische Sicht auf den Menschen ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass er sich ändern kann. Eine verlogene Beschönigung oder gar Leugnung dieser schlechten Realität führt nicht aus ihr heraus, sondern nur immer noch tiefer hinein.
Wir modernen Menschen wollen das nicht hören, die meisten Aufklärer wollten es nicht hören, aber dort, wo heute Wahrheit verhandelt wird, in der Literatur, in der Psychoanalyse und in der Wissenschaft, wird bestätigt: Es stimmt.
Seit Abraham hat sich nichts geändert. Der Systemwechsel wurde nicht vollzogen. Im Jahr 1989, als die Berliner Mauer fiel, dachten viele, nun sei es so weit, nun komme der Weltfrieden, und zunächst sah es ganz danach aus. Dann ereignete sich der 11. September 2001, und am Tag danach verkündete ein martialisch dreinblickender US-Präsident in Bomberjacke der Welt, es sei Krieg, der erste des neuen Jahrhunderts. Von einer Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet, die Tränen aus allen Gesichtern abgewischt werden, die Wölfe bei den Lämmlein liegen und Gott unter den Menschen wohnt, sind wir so weit entfernt, wie Israel zur Zeit der Propheten davon entfernt war.
Aber heute wissen wir besser als damals, warum das so ist. Heute wissen wir: Der nach Millionen kleiner evolutionärer Schritte langsam erwachende Mensch hat durch diese Jahrmillionen währende Entwicklung eine Vorgeschichte und damit ein Erbe, das ihn quasi zur Sünde programmierte, denn was ist die Schöpfung, was ist die Evolution? Sie ist eine endlose Folge von Fressen und Gefressenwerden, Töten und Getötetwerden.
In der Affenhorde, in jedem Wolfsrudel und in zahlreichen anderen Populationen hat es sich als vorteilhaft erwiesen, dass sich nur das stärkste Männchen, der Pascha, fortpflanzen darf. Alle anderen Männchen würden zwar auch gern, aber dürfen nicht, es sei denn, sie besiegen den Pascha, aber der ist ja gerade deshalb Pascha, weil er allen anderen bereits gezeigt hat, wer der Boss ist.
Nur ein Einziger kann gewinnen. Die anderen, obwohl sie allesamt die Nachkommen von Siegern sind, stehen auf der Verliererseite. All ihre Vorfahren bis hinunter zu ihrem ersten Urahn gehörten zu den Siegern, denn nur diese haben sich fortpflanzen können. Aber nun reichen die Siegergene plötzlich nicht mehr, denn einer aus der Kohorte, der aktuelle Pascha, verfügt über eine etwas bessere Ausstattung. Diese wird er an seine Nachkommen weitervererben, und auch von denen wird wieder nur einer, der Stärkste, zur Fortpflanzung kommen, in der nächsten Generation abermals und so fort.
Die Kette erstreckt sich bis zur menschlichen Urhorde. Und das heißt: Am Ende dieses Jahrmillionen währenden Ausscheidungswettbewerbs stehen wir, die Spezies Mensch, die größten, stärksten und raffiniertesten Sieger. Wir sind das Ergebnis des Fortkommens durch Gewalt und Sieg und Niederlage, das Produkt einer schier endlosen Rüstungsspirale. Wir sind die Sieger, die aus einer unendlichen Abfolge von Siegern herausgemendelt wurden.
Von der Kampfausstattung, die uns über Jahrmillionen zugewachsen ist, machen wir Gebrauch, weil wir uns genötigt fühlen, davon Gebrauch zu machen, denn wir erleben einander als Konkurrenten um Macht, Einfluss, Ehre, Ansehen, Ruhm, Besitz und Sex. Wir können gar nicht anders, als den Nachteil der anderen zu wollen. Wir können gar nicht anders, als uns heimlich über Kleinere, Dümmere, Schwächere oder Hässlichere zu freuen. Oder können wir doch? Könnten wir, aber wollen nicht?
Ihr könntet, aber ihr wollt nicht – das genau meint die Geschichte vom Sündenfall. Irgendwo auf dem evolutionären Weg vom Einzeller zum Homo sapiens hat sich ein seltsames Affe-Mensch-Wesen erstmals erhoben, den aufrechten Gang erprobt, seinen Blick vom Erdboden und seiner unmittelbaren Umgebung gelöst und sein Gesichtsfeld erweitert bis zum Horizont. Jetzt hatte dieses weitblickende Wesen plötzlich zwei Hände frei. Jetzt konnte es lernen, seine Welt begreifen, und in dem Maß, in dem es sich einen Begriff von der Welt machte, wuchs sein Gehirn, was wiederum seine Begrifflichkeit steigerte und so fort.
So steuerte dieses Wesen auf einen Punkt zu, an dem das erreichte Maß seiner Begrifflichkeit groß genug war, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Nun war es kein Tier mehr. Jetzt wurde es Mensch und lernte, sich von
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