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Das Dach kommt spaeter

Das Dach kommt spaeter

Titel: Das Dach kommt spaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Murat Topal
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Sitzrasenmähers drauf.
    Während ich meinen Gedanken nachhing, fiel mir die traurige Geschichte meines alten Kumpels Charly ein. Der hatte als eingefleischter Stadtmensch Berlin vor einigen Jahren in einem Anfall geistiger Umnachtung verlassen und mit seiner schwer esoterisch veranlagten Lebensabschnittsgefährtin Jutta in der Ostprignitz einen vergammelten Vierseitenhof erworben. Und zwar zum Preis eines gestandenen Mittelklassewagens. Allen Warnungen seines Freundeskreises zum Trotz faselte er etwas von »Schnäppchen«, »Neubeginn« und »Leben in der Natur«, als sei in einem alten Metropolentrapper wie ihm plötzlich der Indianer erwacht. Was ihn innerhalb kurzer Zeit sowohl finanziell wie psychisch in den Ruin trieb, war vor allem die maßlose Überschätzung seiner handwerklichen Fähigkeiten, mit denen er die nicht enden wollende Sanierung des wurmstichigen Hofes nicht meistern konnte. Naturgemäß fiel auch seine Beziehung zu Jutta der energiefressenden Immobilie zum Opfer. Vom Landvirus geheilt, wohnte Charly nun wieder als bescheidener Mieter in Berlin. Der Verkauf der Trümmerfarm kostete ihn allerdings nicht nur eine Stange Geld, sondern auch seine komplette Kopfbehaarung. Aber lieber kahl in Berlin als wild behaart in der Tundra.
    Da das Navigationssystem unseres Familien-Vans satte fünfundsechzig Minuten Fahrzeit prognostiziert hatte, blieb mir genügend Zeit für solche Reflexionen. Die Warnung meines Elektropfadfinders: »Achtung, Weg beinhaltet unbefestigte Straßen«, verhieß nichts Gutes. Weil ich jedoch keine Alternative parat hatte, beschloss ich, die Warnung zu ignorieren. Wie sich zeigen sollte, keine kluge Entscheidung.
    Ann-Marie hatte es in der kurzen Zeit zwischen Anrufund Aufbruch übrigens geschafft, sich vollständig umzuziehen. Was mich zu der frustrierenden Einsicht brachte, dass Männer Frauen selbst bei Hinzuziehung eines Elektronengehirns von der Größe der Milchstraße niemals verstehen werden. Warum brauchen diese Teufelinnen im Engelskostüm, wenn es eilig und wichtig ist, für jeden Garderobenwechsel quälende Stunden, selbst wenn ihr Outfit am Ende nur mikroskopische Veränderungen aufweist, während sie sich bei jedem unwichtigen Anlass schneller als das Licht komplett neu ausstaffieren können? Ich nenne dieses Phänomen das »Paradoxon des unberechenbaren Wartens«: Das Tempo eines weiblichen Garderobenwechsels steht immer im umgekehrten Verhältnis zu der Wichtigkeit des den Garderobenwechsel veranlassenden Ereignisses, manchmal aber auch nicht.
    Jedenfalls hatte sich meine Herzensschwäbin mit ein paar gezielten Handgriffen ratzfatz in Dolly Parton verwandelt. Oder sagen wir: in Dolly Parton mit nicht ganz so tödlichen sekundären Geschlechtsmerkmalen. Holzfällerhemd, Jeans, Gummistiefel: keine Ahnung, wo Ann-Marie diese rustikalen Accessoires in der Kürze der Zeit hervorgezaubert hatte. Mich beschlich der Verdacht, dass die Schwabenmafia die Umsiedlung aufs Land generalstabsmäßig vorantrieb und ich hier womöglich in eine von langer Hand vorbereitete Falle tappte.
    Dieser Verdacht besserte meine Laune nicht gerade. Je weiter wir uns von der sicheren Stadt entfernten und einem Kaff mit dem einschläfernden Namen Zschorwitz zustrebten, desto mehr verdunkelte sich mein Gemüt. Klang Zschorwitz nicht wie der Inbegriff der gruseligsten Langeweile? War dieser Vorhof des Nichts überhaupt von den simpelsten Errungenschaften der Zivilisation erreicht worden? Schulen, Apotheken, Bäcker – ganz zu schweigen von dernetten Pizzeria um die Ecke? Ich sah mich schon am Schreibtisch unseres vergammelten Hexenhäuschens sitzen und einen philosophischen Exkurs über »Das Nein im Kontext des vollkommenen Gar-Nix« verfassen. Ann-Marie bekam von der allmählichen Verfinsterung meines Gemütszustandes genau dies mit: gar nix. Ihre Wangen glühten vor freudiger Aufregung derart, als wollte sie mit ihnen ganz Brandenburg heizen. Darüber hinaus nervte sie mich in regelmäßigen Abständen mit Landei-Freudenjauchzern à la »Ach wie süß, ein Storchennest« oder »Nein, das gibt’s ja nicht: eine echte alte Bockwindmühle«.
    Mir wurde dabei nur eines klar: Ich hatte weder Bock auf Bockwindmühlen noch auf ein Leben in dieser elendigen Einöde. Als ich dies Ann-Marie in wohlgesetzten Worten mitteilen will, funkt mir eine strenge Frauenstimme dazwischen: »Wenn möglich, bitte wenden.«
    Auch das noch. Ich hatte mich verfahren. Das kommt davon, wenn man als Großstädter sein

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