Das Daemonenschiff
ließ sie sich neben dem am
Boden liegenden Krieger auf die Knie sinken und betastete mit
kundigen Bewegungen seinen Hals, seine Schläfen und seine
Stirn. Dann stand sie rasch wieder auf und befahl den beiden
Kriegern neben sich: »Bringt ihn in die Schmiede. Er braucht
Wärme, und vor allem Wasser. Und sagt meiner Mutter Bescheid, dass sie sich um die beiden kümmert.«
Die beiden Krieger gehorchten – wenn auch nicht, wie Andrej
mit leiser Verärgerung bemerkte, ohne Thure zuvor einen
fragenden Blick zugeworfen und auf sein stummes Nicken
gewartet zu haben.
»Deine Mutter?«, vergewisserte sich Abu Dun und sah Thure
an, »Und ich dachte, Thure wäre euer Heiler.«
Urd verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen, antwortete aber trotzdem. »Ja, das stimmt. Und was glaubst du, von wem
er es gelernt hat?«
»Genug jetzt!«, sagte Thure streng. Er klang verärgert, aber
eben nur so wie ein Bruder, der sich über seine Schwester ärgert,
und nicht so, dass man fürchten musste, er griffe zu seiner
Streitaxt oder seinem Schwert. »Wir haben keine Zeit für solche
Albernheiten.« Seine Stimme wurde lauter, während er sich an
die Männer ringsum wandte. »Durchsucht das Schiff. Macht
eine Liste von allem, was repariert werden muss. Ich will, dass
sie in einer Stunde fertig ist, damit wir mit der Arbeit beginnen
können.« Er wandte sich an Andrej. »Und du und dein Freund
begleiten uns. Jetzt, wo die Fenrir hier ist, haben wir eine
Menge zu besprechen.«
Andrej musste nicht zu Abu Dun hinübersehen, um zu wissen,
was der Nubier von diesem Befehlston hielt. Zu seiner Erleichterung (und vielleicht auch nur aus Rücksicht auf Urd) verkniff
sich Abu Dun aber eine Antwort und sprang mit einem kraftvollen Satz über den Schildwall und auf das darunterliegende Deck
des benachbarten Schiffes. Andrej folgte ihm ebenso behände.
Erst, als sie den Steg wieder erreicht hatten, blieb er noch einmal
stehen und sah zur Fenrir zurück. Seine Vorsicht war übertrieben, und Andrej sagte sich, dass er allmählich begann, sich
lächerlich zu machen.
Aber er hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden.
Andrej hatte nichts anderes erwartet, aber seine Geduld wurde
dennoch überstrapaziert, als er erneut eine Beratung zwischen
Björn und den vier Königen über sich ergehen lassen musste.
Ohnehin war dies nur eine Fortsetzung des kaum verhohlenen
Machtkampfes zwischen Osrik und Thure, der vor fünf Tagen
begonnen hatte und nun fortgeführt wurde, als wäre keine Zeit
vergangen.
Mitternacht musste längst vorüber sein, aber Andrej hatte
schon vor einer Stunde aufgehört, dem Gespräch aufmerksam zu
folgen, vielleicht auch vor zwei. Am Anfang hatten sich die
versammelten Heerführer noch damit begnügt, sich über das
fehlende Mitglied in ihrer Runde zu beklagen – König Soundso,
dessen Namen sich Andrej ebenso wenig gemerkt, wie er sich
die Mühe gemacht hatte, sich sein Gesicht einzuprägen. Der
Mann war von Anfang an der Schweigsamste von allen gewesen, und obwohl er Thure nicht ein einziges Mal widersprochen
und keinen Zweifel gezeigt hatte, hatte Andrej gewusst, dass er
nicht zurückkommen würde. Er war kein Krieger. Obwohl auf
dieselbe martialische Art wie alle anderen gekleidet und von
kräftigem Wuchs, war er innerlich ein sanfter Mann. An einem
anderen Ort und in einer anderen Zeit hätte man ihn vermutlich
als einen weisen Herrscher bezeichnet, der nicht mit dem
Schwert regiert, sondern durch Gerechtigkeit und Güte. Hier
und jetzt und in den Augen all dieser Männer galt er als Feigling. Andrej tat er sogar leid, aber er hatte sich nicht die Mühe
gemacht, ihn zu verteidigen. Ob sie nun tatsächlich auf geheimnisvolle Weise in einem lange zurückliegenden Jahrhundert
gestrandet waren oder diese Menschen einfach vergessen hatten,
ihren Kalender weiterzuschreiben – Abu Dun und er würden
bald nicht mehr hier sein, was auch geschehen mochte. Darüber
hinaus würde er dem Mann keinen Gefallen erweisen, wenn er
seine Partei ergriff.
»Also ist es beschlossene Sache«, sagte Thure, schlug fest mit
der flachen Hand auf den Tisch und sah Andrej Beifall heischend an. »Nicht wahr?«
Andrej nickte wie selbstverständlich und kramte angestrengt in
seinem Gedächtnis, um sich darauf zu besinnen, was eigentlich
beschlossene Sache war. Gleichzeitig versuchte er unauffällig
nach Abu Dun Ausschau zu halten, aber der Nubier war klüger
gewesen als er und schon lange nicht mehr
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