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Das Daemonenschiff

Das Daemonenschiff

Titel: Das Daemonenschiff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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doch er hatte nichts
von alledem getan. Als Urd zu ihm gekommen war und mit
steinernem Gesicht auf der Bettkante neben ihm Platz genommen hatte, war bereits die Sonne aufgegangen. Jetzt stand sie als
glühender gelber Ball über dem Horizont, ein gleißendes Licht,
das Wärme versprach, und dieses Versprechen niemals einlösen
würde, nicht hier, in diesem Teil der Welt. Sie saßen noch immer schweigend und in unveränderter Haltung nebeneinander.
Andrej fühlte ihren Schmerz, und er konnte nicht sagen, was
ihm selbst mehr wehtat: sie so leiden zu sehen, oder das Eingeständnis seiner eigenen Unfähigkeit, ihr Trost zu spenden.
    »Wenn ich wenigstens weinen könnte«, murmelte Urd plötzlich. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit sie zu ihm
gekommen war. Sie starrte weiter ins Leere, und Andrej fragte
sich, ob die Worte ihm gegolten hatten. Er war nicht einmal
sicher, ob sie wusste, dass er da war.
    Gewiss nicht zum ersten Mal, seit sie sich neben ihn gesetzt
hatte, streckte er die Hand nach ihr aus, um sie zu berühren,
doch wieder wagte er es nicht und ließ die Hand sinken.
    Aber sie musste die Bewegung wohl gespürt haben, denn zum
ersten Mal wandte sie jetzt den Kopf und sah ihn an, und plötzlich erschien auch wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Wenn
auch ein Lächeln, das ihm schier das Herz zerreißen wollte.
Seine Stimme klang krächzend und wie die eines Fremden in
seinen Ohren, als er antwortete: »Und warum kannst du es
nicht?«
    »Vielleicht, weil man uns von Kindesbeinen an beigebracht
hat, dass es sich nicht gehört.«
»Um einen geliebten Menschen zu weinen?«, sagte Andrej
zweifelnd. »Das ist grausam.«
»Um einen Krieger zu weinen«, antwortete Urd und dieses
Mal ließ ihr Lächeln sein Herz nicht zerbrechen, sondern zu Eis
erstarren. »Mein Vater war nicht nur unser König, sondern auch
ein großer Krieger. Als er noch jung war, war er ebenso stark
und tapfer wie Björn oder Thure. Er ist einen ehrenvollen Tod
gestorben. Den Tod eines Kriegers. Man hat uns gelehrt, dass es
keinen Grund zur Trauer gibt, um einen Krieger zu weinen, der
in der Schlacht fällt.«
»In der Schlacht?« Andrej schüttelte den Kopf. »Es war keine
Schlacht, Urd. Sie haben ihn umgebracht. Sie haben einem kranken, alten Mann einfach die Kehle durchgeschnitten. Das war
kein fairer Kampf.«
»Er ist durch das Schwert gestorben, und damit den Tod, der
einem Krieger zukommt«, widersprach Urd. »Er wird in Ehren
nach Walhalla gehen und schon heute Nacht an Odins Tafel sitzen. Es besteht kein Grund zum Klagen.« Andrej sah sie zweifelnd an, und Urd fuhr mit einem bedächtigen Nicken und in
ernstem Ton fort: »Das ist ein ziemlicher Unsinn, nicht wahr?
Und weißt du, was das Schlimmste daran ist? Bis heute Morgen
habe ich es sogar geglaubt.«
Andrej schwieg auch dazu. Es gab so viel, das er ihr über den Tod hätte erzählen können … und zugleich so wenig. Nichts
davon hätte sie getröstet. Was hätte er auch sagen sollen? Dass
der Tod nichts Schlimmes, sondern nur ein Teil des Lebens war,
dass er sie eines Tages alle ereilen würde (von ein paar Ausnahmen wie Abu Dun und ihm einmal abgesehen) und dass es
keinen Grund gab, ihn zu fürchten? Er wusste es ja nicht einmal
selbst. Er war schon so oft gestorben, dass der Tod für ihn etwas
so Selbstverständliches wie der Schlaf geworden war, und er
hatte schon lange aufgehört, über seine Natur zu grübeln. Die
Wahrheit war: So oft er auch schon jene unsichtbare Grenze
überschritten hatte und wieder zurückgekehrt war, er hatte niemals auch nur eine einzige Erinnerung von dort mitgebracht.
Vielleicht gab es nichts, woran man sich erinnern konnte.
Aber das konnte er ihr unmöglich sagen. In all den Jahren hatte
er nicht einmal den Mut gehabt, es sich selbst einzugestehen.
»Warum erlaubst du dir nicht selbst zu weinen?«, fragte er.
»Hast du es dir erlaubt?«, fragte sie.
Nein. Das hatte er nie. Alles, was er sich jemals erlaubt hatte,
war Zorn.
Urd wartete einige Sekunden lang vergebens auf eine Antwort,
lächelte wieder dieses traurige, herzzerreißende Lächeln und tat
dann plötzlich das, wofür ihm selbst der Mut gefehlt hatte: Sie
griff nach seiner Hand. »Du bist verletzt!«
Andrej begriff seinen Fehler zu spät und versuchte halbherzig,
die Hand zurückzuziehen, aber Urd hielt sie mit erstaunlicher
Kraft fest. »Das ist nichts.«
»Das ist Blut«, verbesserte ihn Urd.
»Ja«, antwortete Andrej. Seine Hand und der Saum

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