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Das Dampfhaus

Das Dampfhaus

Titel: Das Dampfhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Parazard seine gewohnte tägliche Ration beanspruchte. Unser schwarzer Küchenchef nahm einmal keine Vernunft an, und wenn der Diener des Kapitäns ihm von Tigern, Guepards und anderen minder schmackhaften Bestien erzählte, zuckte er verächtlich die Achseln und sagte blos:
    »Kann man das Zeug essen?«
    An diesem Abend hielten wir unter dem Schutze einer Gruppe riesiger Banianen. Die Nacht war ebenso still wie der Tag ruhig. Nicht einmal das Heulen der Raubthiere unterbrach das Schweigen der Natur. Auch unser Elephant ruhte ja. Das Zischen und Brausen des abblasenden Dampfes hatte aufgehört. Die Feuer waren gelöscht und um dem Kapitän zu willfahren, hatte Banks nicht einmal den elektrischen Strom in Gang gesetzt, der die Augen des Stahlriesen in zwei glänzende Leuchtfeuer verwandelte. Doch auch dieses Mittel erwies sich als fruchtlos.
    Ganz ebenso vergingen der 1. und 2. Juni. Es war zum Verzweifeln.
    »Man hat mir das Königreich Audh vertauscht! rief der Kapitän wiederholt. Man hat es mitten nach Europa hinein versetzt! Hier giebt’s jetzt ebensowenig Tiger, wie in den schottischen Niederungen!
    – Möglicherweise, lieber Hod, erwiderte Oberst Munro, sind in der Gegend Treibjagden abgehalten und die Thiere in Menge verscheucht worden. Doch verzweifeln Sie noch nicht; warten Sie, bis wir am Fuße der Berge von Nepal sind. Dort werden Sie Gelegenheit finden, Ihre Meisterschaft im edlen Waidwerk zu erproben.
    – Ich hoffe es, lieber Oberst, antwortete Hod, im anderen Falle müßten wir die Kugeln wahrlich zum Umgießen in die Schrotmühle schicken!«
    Im Laufe des 3. Juni herrschte eine bis dahin unbekannte Hitze. Wäre der Weg nicht von großen Bäumen beschattet gewesen, ich glaube, wir wären in unserer beweglichen Wohnung buchstäblich gesotten worden. Der Thermometer stieg im Schatten bis auf 48 Grad, ohne den geringsten Luftzug. Es war also möglich, daß auch die Raubthiere bei so erstickender Gluth selbst in der Nacht gar nicht daran dachten, ihre Höhlen zu verlassen.
    Am nächsten Tag bei Sonnenaufgang erschien der westliche Horizont zum erstenmale etwas neblig. Wir genossen da das herrliche Schauspiel einer sogenannten Luftspiegelung, die man in einigen Gegenden Indiens »Seekote«, das ist Luftschlösser, in anderen »Dessasur«, das ist Augentäuschung, nennt.
    Es war jedoch keine scheinbare Wasserfläche mit den wunderbaren Effecten der Strahlenbrechung, die vor unseren Augen lag, sondern eine ganze Kette mäßiger Hügel, besetzt mit den phantastischsten Schlössern, die es nur geben kann, so etwa wie die Ufer des Rheinthales mit ihren alterthümlichen Burggrafensitzen. Wir sahen uns für kurze Zeit nicht nur in das Herz des alten Europa, sondern auch fünf bis sechs Jahrhunderte zurück, mitten in’s Mittelalter versetzt.
     

    Gegen Abend belud sich der Horizont mit Dunstmassen. (S. 146.)
     
    Die überraschend deutliche Erscheinung machte auf uns völlig den Eindruck der Wirklichkeit. Der Stahlriese mit Allem, was dazu gehörte, erschien mir, als er so auf eine Stadt aus dem 11. Jahrhundert zuzog, noch fremdartiger, als wenn er, in Dampfwolken gehüllt, durch das Land Wischnu’s und Brahma’s trabte.
    »Hab’ Dank, Mutter Natur! rief entzückt der Kapitän. Nach so vielen Minarets und Kuppeln, so vielen Moscheen und Pagoden doch endlich einmal eine alte Stadt aus der schönen Feudalzeit mit der romanischen und gothischen Pracht, die sie vor meinen Augen entrollt!
    – Alle Wetter, scherzte Banks, was unser Freund Hod heute poetisch gestimmt ist. Sollte er vor dem Frühstück schon eine Ballade verzehrt haben?
    – Immer lachen Sie, lieber Banks, scherzen und spotten Sie nach Herzenslust, entgegnete Hod; aber blicken Sie nur dorthin! Sehen Sie Alles, wie es im Vordergrund noch größer erscheint; da werden Gebüsche zu Bäumen, Hügel wachsen zu Bergen an, und…
    – Und einfache Katzen würden zu Tigern, wenn es hier gerade Katzen gäbe, nicht wahr, Hod?
    – O, Banks, das wäre nicht zu verachten!… Ei, rief der Kapitän, da schmelzen ja meine Schlösser am Rhein, die Stadt verschwindet und wir fallen aus dem Himmel auf die Erde, in eine gewöhnliche Landschaft des Königreichs Audh, welches nicht einmal die Tiger mehr bewohnen mögen!«
    Die im Osten jetzt mehr heraufgestiegene Sonne hatte das Spiel der Strahlenbrechung plötzlich verwandelt. Die Burgen stürzten gleich Kartenhäusern zusammen und die Hügel sanken zur Ebene herab.
     

    Die Haltestelle lag am Saume eines Waldes.

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