Das Darwin-Virus
die Abtreibung.«
»Was er dafür hält …«, sagte Bao ungläubig. »Aber was glauben Sie, Dr. Dicken?«
Das Wetter verbreitete eine feuchtwarme sommerliche Stimmung, die Dicken vertraut und sogar tröstlich vorkam; ein tief verborgener, trauriger Teil von ihm glaubte in Afrika zu sein, und das wäre ihm viel lieber gewesen als sein derzeitiges Dasein. Über eine provisorische Asphaltschräge betraten sie den nächsten, höher gelegenen Gehweg. Sie stiegen über ein gelbes Absperrband und gingen durch den Haupteingang in das Gebäude 10.
Seit zwei Monaten war das Leben für Christopher Dicken in die Brüche gegangen. Die Erkenntnis, dass verborgene Charaktereigenschaften sein wissenschaftliches Urteilsvermögen beeinflussen konnten – dass das Zusammenspiel von Liebeskummer und beruflichem Druck ihn in eine Haltung gedrängt hatte, von der er wusste, dass sie falsch war –, hatte an ihm genagt wie ein Schwarm kleiner Stechmücken. Irgendwie hatte er es geschafft, sich nach außen hin als gelassener Mitspieler in der Mannschaft der Taskforce zu geben. Aber er wusste, dass es nicht ewig so weitergehen konnte.
»Ich glaube an die Arbeit«, sagte er. Es war ihm peinlich, dass seine Gedanken die Antwort so lange verzögert hatten.
Sich einfach von Kaye Lang loszusagen und ihr gegen Jacksons Ausfälle nicht den Rücken zu stärken, war ein unbegreiflicher, unverzeihlicher Fehler gewesen. Er bereute ihn mit jedem Tag mehr, aber jetzt war es zu spät, um alte, abgerissene Fäden neu zu knüpfen. Nach wie vor konnte er eine Mauer aus Begriffen um sich herum errichten und gewissenhaft an den Aufgaben arbeiten, die man ihm zugewiesen hatte.
Sie fuhren mit dem Aufzug in die siebte Etage, wandten sich nach links und gingen in das kleine PersonalBesprechungszimmer in der Mitte eines langen, rosa und beige getünchten Korridors.
Bao setzte sich. »Christopher, Sie kennen Anita und Preston schon.«
Die beiden grüßten Dicken mit geringer Begeisterung.
»Ich fürchte, es gibt keine guten Neuigkeiten«, berichtete Dicken, während er sich gegenüber von Preston Meeker niederließ.
Wie seine Kollegen in dem kleinen Zimmer, so vertrat auch Meeker ein ganz spezielles Teilgebiet der Kinderheilkunde: Wachstum und Entwicklung von Neugeborenen.
»Ist Augustine immer noch dabei?«, fragte Meeker, von Anfang an streitlustig. »Macht er immer noch Reklame für RU-486?«
»Zu seinen Gunsten muss man sagen«, erwiderte Dicken und hielt einen Augenblick inne, um sich zu sammeln und sein altes Lügengesicht überzeugender zu präsentieren, »dass er keine Alternative hat. Die Retrovirusexperten an den CDC sind übereinstimmend der Ansicht, dass die Theorie der Expression und Komplettierung plausibel ist.«
»Kinder als Überträger unbekannter Krankheiten?« Meeker schob die Lippen vor und zischte abschätzig.
»Es ist eine durchaus vertretbare Meinung. Nimmt man dann noch die große Wahrscheinlichkeit hinzu, dass die meisten Kinder mit Fehlbildungen auf die Welt kommen würden …«
»Das wissen wir nicht«, sagte House, die kommissarische stellvertretende Direktorin des National Institute of Child Health and Human Development. Der eigentliche Stellvertreter war vor zwei Wochen zurückgetreten. Mittlerweile hatten sich eine ganze Menge NIHMitarbeiter aus der SHEVATaskforce zurückgezogen.
Fast ohne Bitterkeit dachte Dicken daran, dass Lang sich auch in dieser Hinsicht als Pionierin erwiesen hatte – sie war als Allererste gegangen.
»Es ist unbestreitbar«, sagte Dicken, diesmal ohne Gewissensbisse, weil es stimmte: Bisher hatte noch keine SHEVAinfizierte Mutter ein gesundes Kind zur Welt gebracht. »Bei den meisten von zweihundert Fällen wurde über schwere Fehlbildungen berichtet. Und alle kamen tot zur Welt.« Aber nicht alle waren missgebildet, ermahnte er sich selbst.
»Wenn der Präsident einer landesweiten Kampagne für die Anwendung von RU-486 zustimmt«, sagte Bao, »werden die CDC in Atlanta wohl kaum geöffnet bleiben. Da gibt es zwar wie in Bethesda ein aufgeklärtes Umfeld, aber wir befinden uns immer noch tief im christlichen Süden. Vor meinem Haus stehen schon Posten, Christopher. Ich bin von Wächtern umgeben.«
»Ich verstehe«, sagte Dicken.
»Sie vielleicht, aber versteht Mark es auch? Er beantwortet weder meine Anrufe noch meine EMails.«
»Diese Abschottung können wir nicht hinnehmen«, bemerkte Meeker.
»Wie viele Akte des zivilen Ungehorsams sind nötig, um etwas zu bewirken?«, fügte House
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