Das Darwin-Virus
Aussichten.«
»Sie ist diejenige, die dieses Virus entdeckt hat«, sagte Mitch.
»Sie weiß darüber mehr als jeder andere, und sie ist überzeugt …«
»Dass alle anderen sich irren?«
»Dass wir unsere Denkweise in den nächsten Jahren ändern müssen.«
»Ist sie demnach verrückt oder nur eine Fanatikerin?« Mitch runzelte die Stirn. »Vorsicht, Dad«, sagte er. Sam streckte die Hände in die Luft. »Um Himmels Willen, Mitch, ich fliege extra nach Österreich, das erste Mal, dass ich überhaupt in Europa bin, und dann auch noch ohne deine Mutter. Ich hole meinen Sohn aus dem Krankenhaus, nachdem er … na ja, das hatten wir alles schon. Aber warum nimmst du diesen Kummer auf dich, warum gehst du um Gottes Willen dieses Risiko ein? Das frage ich mich wirklich.«
»Seit ihr erster Mann gestorben ist, war sie fast übereifrig darauf bedacht, nach vorn zu blicken und alles in positivem Licht zu sehen«, sagte Mitch. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie verstehe, Dad, aber ich liebe sie. Ich vertraue ihr. Irgendetwas in mir sagt, dass sie Recht hat, sonst hätte ich nicht mitgemacht.«
»Du meinst, sonst hättest du dich nicht gefügt.« Sani sah die Kuh an und wischte sich an der Hose den Flechtenstaub von den Händen. »Und was ist, wenn ihr beide Unrecht habt?«
»Wir wissen über die Konsequenzen Bescheid. Wir werden damit leben«, erwiderte Mitch. »Aber wir haben nicht Unrecht. Dieses Mal nicht, Dad.«
»Ich habe gelesen, so viel ich konnte«, sagte Abby Rafelson. »Es ist ganz schön verwirrend, diese vielen Viren.« Die Nachmittagssonne fiel durch das Küchenfenster und warf gelbe Rauten auf den unbehandelten Eichenfußboden. In der Küche roch es nach Kaffee –
zu viel Kaffee, dachte Kaye, deren Nerven blank lagen – und Hackfleischpasteten, die sie mittags gegessen hatten, bevor die Männer ihren Spaziergang machten.
Mitchs Mutter hatte sich ihre Schönheit über den sechzigsten Geburtstag hinaus erhalten, eine gebieterische Art des guten Aussehens, für das hohe Wangenknochen, tief liegende blaue Augen und makellose Körperpflege sorgten.
»Gerade diese Viren sind schon sehr lange unsere Begleiter«, sagte Kaye. Sie hatte ein Bild des fünfjährigen Mitch in der Hand, der auf einem Dreirad am Flussufer des Willamette in Portland entlang fuhr. Er wirkte konzentriert und hatte die Kamera offenbar vergessen; irgendwie erkannte sie den gleichen Gesichtsausdruck wieder, den er beim Autofahren oder Zeitunglesen hatte.
»Wie lange?«, wollte Abby wissen.
»Vielleicht seit zigmillionen Jahren.« Kaye nahm ein anderes Bild von dem Stapel auf dem Couchtisch. Es zeigte Mitch und Sam, die Holz auf einen Lastwagen luden. Nach der Größe und den dünnen Armen und Beinen zu urteilen, war Mitch damals zehn oder elf gewesen.
»Was haben sie denn ursprünglich getan? Irgendwie verstehe ich das nicht.«
»Sie könnten uns über die Geschlechtszellen infiziert haben, die Ei- und Samenzellen. Und dann haben sie sich festgesetzt. Sie sind mutiert oder durch irgendetwas inaktiviert worden oder … wir haben sie für unsere Zwecke genutzt. Haben einen Weg gefunden, sie in unsere Dienste zu stellen.« Kay blickte von dem Bild auf.
Abby starrte sie entgeistert an. »Ei- oder Samenzellen?«
»Eierstöcke, Hoden«, sagte Kaye und senkte den Blick wieder.
»Und was hat bewirkt, dass sie jetzt wieder rauskommen?«
»Irgendetwas in unserem Alltagsleben«, erwiderte Kaye. »Stress vielleicht.«
Abby dachte kurz nach. »Ich habe einen Collegeabschluss in Leibeserziehung. Hat Mitch Ihnen das erzählt?«
Kaye nickte. »Er hat gesagt, Sie hätten Biochemie als Nebenfach gehabt. Ein paar vorklinische Praktika.«
»Ja, na ja, mit Ihnen kann ich natürlich nicht mithalten. Aber es war mehr als genug, um an meiner religiösen Erziehung zu zweifeln. Ich weiß nicht, was meine Mutter gesagt hätte, wenn sie etwas von diesen Viren in unseren Geschlechtszellen gewusst hätte.«
Abby lächelte Kaye an und schüttelte den Kopf. »Vielleicht hätte sie von der Erbsünde geredet.«
Kaye sah Abby an und suchte nach einer Antwort. »Das ist ja interessant«, brachte sie gerade noch heraus. Warum der Gedanke sie so beunruhigte, wusste sie nicht, aber das irritierte sie nur noch mehr. Sie fühlte sich durch diese Vorstellung bedroht.
»Die Gräber in Russland«, sagte Abby leise. »Vielleicht haben die Nachbarn der Mütter ja auch gedacht, es sei ein Ausbruch der Erbsünde.«
»Ich glaube nicht, dass es das ist«,
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