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Das Dekameron

Das Dekameron

Titel: Das Dekameron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni Boccacio
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lauten Rufen, dem Weinen, der ausgestandenen Angst und dem langen Fasten so angegriffen, daß er nicht mehr von der Stelle konnte. Als nun die Nacht anbrach, stieg Pietro, der sich anders nicht zu raten und zu helfen wußte, vom Pferde, band es an eine hohe Eiche und kletterte dann, um nicht von den wilden Tieren zerrissen zu werden, auf die Äste. Bald danach ging der Mond auf, und der Himmel war klar und hell. Pietro aber enthielt sich aus Furcht, herunterzustürzen, des Schlafs, obgleich ihn auch in der sichersten und bequemsten Stellung sein Gram und seine Sorgen um das Mädchen nicht hätten schlafen lassen, so daß er unter Seufzern, Tränen und Verwünschungen seines Mißgeschicks wachend die ganze Nacht verbrachte.
    Inzwischen war das Mädchen, wie wir schon oben erzählt haben, ohne einer andren Richtung zu folgen als der, auf welcher sie das Pferd nach eigener Lust davontrug, so weit in den Wald geflohen, daß sie die Stelle, wo sie hineingekommen war, nicht mehr erkennen konnte. Und so verbrachte denn auch sie, bald verweilend, bald umherirrend, bald rufend und bald ihr Unglück mit tausend Tränen beweinend, den ganzen Tag in dieser waldigen Wildnis.
    Als sie nun Pietro, da es schon Abend ward, noch immer nicht kommen sah, schlug sie einen kleinen Pfad ein, den sie gewahr geworden war. Das Pferd verfolgte die Spur, und als sie etwas über zwei Meilen weit geritten war, erblickte sie in der Ferne ein kleines Häuschen. Sie beeilte sich, dies so schnell wie möglich zu erreichen, und fand es von einem wackeren Manne, der hoch in den Jahren war, und von seiner ebenfalls betagten Frau bewohnt.
    Als diese sahen, daß sie allein war, sagten sie: »Ach, Tochter, was tust du um diese späte Stunde so allein hier draußen?« Das Mädchen erwiderte weinend, wie es den Gefährten im Walde verloren habe, und fragte dann, wie weit es noch bis Anagni sei. »Meine Tochter«, antwortete der gute Mann, »hier geht der Weg nach Anagni nicht vorüber, und es sind mehr als ein Dutzend Meilen bis dahin.« Darauf sagte das Mädchen: »Sind denn nicht wenigstens Häuser in der Nähe, wo man beherbergt werden kann?« Der gute Mann aber entgegnete: »Keines so nahe, daß du es noch bei Tage erreichen könntest.« »Wenn ich denn nirgends anders Unterkommen kann«, erwiderte das Mädchen, »wäret Ihr dann so freundlich, mich diese Nacht aus Barmherzigkeit bei Euch zu behalten?« Darauf antwortete der gute Mann: »Mein Kind, es soll uns lieb sein, wenn du diese Nacht bei uns bleibst. Doch wollen wir dir im voraus sagen, daß übelgesinnte Heerhaufen beider Parteien bei Tag und Nacht diese Gegend zu durchstreifen pflegen und uns gar häufig großen Schaden und Verdruß antun. Würden wir nun zum Unglück, während du hier bist, von einer solchen Bande heimgesucht, so täten sie dir um deiner Jugend und Schönheit willen gewiß Schaden und Schande an, ohne daß wir dich im mindesten zu schützen vermöchten. Das haben wir dir im voraus sagen müssen, damit, wenn es wirklich geschehen sollte, du dich nachher nicht über uns beschweren könntest.« Sosehr die Worte des alten Mannes Agnolella erschreckten, sagte sie dennoch, die späte Stunde erwägend: »Gott wird, wenn es ihm gefällt, Euch und mich vor solchem Unglück schützen. Ist es aber über uns verhängt, so ist es immer noch besser, von den Menschen mißhandelt, als im Walde von den wilden Tieren zerrissen zu werden.«
    Mit diesen Worten stieg sie vom Pferde, trat in das Haus des armen Mannes ein und teilte das spärliche Abendessen der guten Leute. Dann legte sie sich, angekleidet wie sie war, mit ihnen auf ihr Lager und fand die ganze Nacht über kein Ende, zu seufzen und neben ihrem eigenen Unglück das des Pietro zu beweinen, über dessen Schicksal sie sich ja auch nur den schlimmsten Vermutungen hingeben konnte.
    Als es schon Morgen werden wollte, hörte sie die Tritte zahlreicher Leute immer näher kommen. Besorgt vor der drohenden Gefahr ging sie in den weiten Hofraum, der hinter dem Häuschen lag, und verbarg sich dort in einem großen Heuhaufen, den sie in dem einen Winkel liegen sah, um nicht so bald gefunden zu werden, auch wenn jene Leute dorthin kommen sollten. Kaum hatte sie sich indes versteckt, als jene, die einen großen Heerhaufen bösen Raubgesindels bildeten, auch schon bei dem Häuschen angelangt waren und sich die Tür öffnen ließen. Wie sie nun eintraten und das Pferd des Mädchens noch völlig gesattelt und gezäumt fanden, fragten sie, wer denn da

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