Das Dekameron
hielt, hörte er das Wehklagen der unglücklichen Frau. Er stieg deshalb hinauf und rief, so laut er konnte: »Wer weint dort oben?« Die Witwe erkannte die Stimme ihres Arbeiters, rief ihn beim Namen und sprach: »Eile zu meiner Magd und sorge, daß sie schnell hier zu mir heraufkommt.« Nun erkannte der Arbeiter auch sie und rief: »Weh mir, Madonna, wer brachte Euch dort hinauf? Eure Magd sucht Euch heute schon den ganzen Tag; aber wer hätte glauben können, daß Ihr dort oben wäret!« Dann nahm er die Stangen der Leiter, fing an sie aufzurichten, wie sie stehen mußte, und band daran mit Weidenbast die einzelnen Querhölzer fest.
Indem kam die Magd dazu, und als sie in den Turm trat, konnte sie ihre Stimme nicht länger zurückhalten, sondern fing unter Händeringen zu rufen an: »Weh mir, meine holde Gebieterin, wo seid Ihr?« Als die Witwe sie hörte, rief sie, so laut sie nur konnte: »O meine Schwester, ich bin hier oben. Weine nicht, sondern reiche mir schnell meine Kleider.« Sobald die Magd sie sprechen hörte, stieg sie, schon fast getröstet, schnell die Leiter empor, die der Bauer beinahe ganz zurechtgemacht hatte, und gelangte mit seinem Beistand auf den Söller. Als sie nun aber ihre Gebieterin, kaum einem menschlichen Körper, sondern viel eher einem verkohlten Holzklotz ähnlich, ganz erschöpft, ganz entstellt und nackt auf dem Söller liegen sah, fuhr sie sich mit den Nägeln ins Gesicht und wehklagte nicht anders über sie, als wäre sie tot. Die Dame aber beschwor sie bei Gott, zu schweigen und ihr beim Ankleiden zu helfen. Und nachdem sie von ihr erfahren hatte, daß niemand außer denen, die ihr die Kleider gebracht, und dem anwesenden Arbeiter vernommen hatte, wo sie gewesen sei, tröstete sie sich halbwegs und beschwor sie nur, niemand je etwas hiervon zu sagen.
Nach langem Reden lud der Arbeiter sich die Dame, die nicht gehen konnte, auf die Schulter und trug sie glücklich vom Turme herab. Die unglückliche Magd aber, die zurückgeblieben war, stieg die Leiter weniger vorsichtig hinunter, glitt mit dem Fuß aus und fiel von oben auf die Erde herab, wobei sie sich das Hüftbein brach und wie ein Löwe zu brüllen anfing. Der Arbeiter bettete die Dame auf einen Rasenfleck und ging dann zu sehen, was der Magd widerfahren sei. Als er sie mit gebrochenem Bein fand, trug er sie ebenfalls zum Rasen hin und legte sie neben ihrer Gebieterin nieder. Da diese nun noch ein solches Unglück zu all dem übrigen Mißgeschick hinzukommen sah und jetzt die Dienerin mit gebrochenem Bein erblickte, von der sie mehr als von irgendjemand anderm Hilfe erwartet hatte, ward sie über die Maßen traurig und fing von neuem so bitterlich zu weinen an, daß ihr Arbeiter sie nicht zu trösten vermochte, sondern selbst zu weinen anhub.
Doch da die Sonne schon tief stand, begab er sich auf den Wunsch der untröstlichen Dame, um hier nicht von der Nacht überrascht zu werden, nach seinem Hause, rief zwei seiner Brüder und seine Frau herbei und kehrte in deren Begleitung mit einem Brett zurück, auf das man die Magd legte und sie so nach Hause trug. Die Witwe aber stärkte er mit frischem Wasser und mit guten Worten, nahm sie dann auf seine Schulter und trug sie in ihre Kammer. Die Frau des Arbeiters gab ihr geröstetes Brot zu essen, kleidete sie aus und brachte sie zu Bett. In der folgenden Nacht aber trug der Arbeiter Sorge, daß die Dame und ihre Magd nach Florenz getragen wurden.
Die Witwe, die unerschöpflich an allerhand Listen war, ersann hier eine fabelhafte Geschichte, die mit dem wirklich Geschehenen nichts gemein hatte, und machte dadurch ihren Brüdern, Schwestern und jedem ändern weis, daß dies alles ihr selbst und der Magd allein durch Zauberkünste und Teufelsspuk zugestoßen sei. Ärzte waren zur Hand, welche die Witwe, der mehr als einmal die ganze Haut am Bettlaken kleben blieb, nicht ohne viel Angst und Trübsal von einem heftigen Fieber und ändern Begleitumständen, die Magd aber von ihrem Beinbruch heilten. Um aller dieser Dinge willen vergaß jene ihren Liebhaber und hütete sich fortan wohlweislich sowohl vor dem Verhöhnen als auch vor dem Verlieben.
Als der Gelehrte von dem Beinbruch der Magd hörte, meinte er, hinreichende Rache genommen zu haben, und ließ nun, zufrieden und ohne weiterzugehen, die Sache auf sich beruhen. So also erging es der törichten Frau mit ihrem Spotte, indem sie einen Gelehrten ebenso leicht anführen zu können glaubte wie einen anderen, und nicht wußte,
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