Das Diamantenmädchen (German Edition)
angespannt. Er versuchte einzuschätzen, wie sehr Lilli gerade in Gefahr war und ob er versuchen könnte, Kornfeld abzulenken. Von Schubert saß neben ihm auf dem Boden.
»Wisst ihr, wie sie mich in Afrika genannt haben?«, fragte Wilhelm in einem so normalen Gesprächston, wie es ihm mit seiner zerstörten Stimme möglich war. Alle schwiegen.
»Der Geistermann«, sagte Wilhelm. »M’banga hat immer Angst vor mir gehabt. Ich hätte ihn nicht getötet«, sagte er langsam, fast nachdenklich, »wir haben sechs Jahre in Kolmannskuppe zusammen verbracht. Auch wenn er immer Angst vor mir hatte. Aber er hat mich angegriffen. Totschlagen wollte er mich.«
Keiner sagte etwas. Nur den Polizisten hörte man weiter stöhnen. Es war ein verzweifeltes Geräusch.
»Lassen Sie mich zu dem Mann!«, sagte Schambacher. »Kornfeld. Sie müssten doch … gerade Sie! Sie waren Soldat. Sie haben doch … kommen Sie«, sagte Schambacher jetzt verzweifelt. Er hatte die Männer mitgenommen. Er war schuld. Wilhelm sah ihn an. Dann veränderte sich plötzlich etwas in seiner Haltung. Er straffte sich und sah sich in der Kirche um. Noch immer hielt er Lilli fest. Dann deutete er auf die Sakristei.
»Geht da rüber«, befahl er, »schnell jetzt! Ich kümmere mich um den Mann.«
Zögernd stand Schambacher auf. Paul und von Schubert gingen voran, sie öffneten die Tür zur Sakristei.
»Kein Licht!«, befahl Wilhelm, als Paul nach dem Schalter greifen wollte. Die Sakristei war ein fensterloser Raum. Es gab einen schweren Eichenschrank, einen sehr kleinen Altar mit weiß schimmernder Decke und einen Betstuhl. An der Wand hing an einem Kleiderbügel ein Talar. Eine zweite Tür führte nach außen, damit der Pfarrer von der Seite in die Kirche kommen konnte. Wilhelm prüfte sie rasch. Sie war verschlossen.
»Hinsetzen!«, befahl er mit schwerer Zunge. Er ließ Lilli los und richtete die Pistole auf Schambacher, während er langsam rückwärts wieder in den Chor ging.
»Keinen Laut!«, warnte er ihn. »Kein Licht. Wenn irgendjemand schreit, wenn ich Licht sehe, ist der Mann sofort tot.«
Dann, in einer sehr schnellen Bewegung, war er draußen, warf die Tür zu und schloss ab. Man konnte hören, wie er den Schlüssel abzog. In der Sakristei war es dunkel. Es roch stark nach Weihrauch und altem Holz. Nur durch das kleine Fensterchen in der Außentür schimmerte es herein, sodass man wenigstens ein paar Konturen erkennen konnte.
»Was macht er?«, fragte Lilli flüsternd.
Alle lauschten. Man hörte nur schwach, dass der Polizist noch immer stöhnte.
»Er versucht abzuhauen«, sagte Schambacher, aber er traute sich auch noch nicht, zu rufen oder das Fensterchen einzuschlagen, um sich bemerkbar zu machen.
»Nein«, sagte Paul, der das Ohr an der Tür hatte, »ich höre ihn reden.«
In Lillis Kopf wirbelte es. Es war alles viel zu viel gewesen.
»Paul«, flüsterte sie unsicher, »es … es tut mir leid. Wirklich. Ich dachte … Wilhelm hat gesagt, du hättest ihn umgebracht.«
Paul antwortete nicht gleich. Man hörte von Schuberts schweres Atmen. Schambacher war an das Milchglasfensterchen der Tür gegangen, um vielleicht sehen zu können, was draußen passierte.
»Und du hast ihm geglaubt!«, sagte Paul schließlich leise.
»Paul!«, sagte Lilli verzweifelt. »Was hätte ich denn glauben sollen? Was konnte ich denn glauben? Dein Anhänger bei dem Ermordeten! Du hast mich doch um ein Alibi gebeten! Du hast mir nicht mal gesagt, dass du Wilhelm gesehen hast! Wieso … wieso hat er gesagt, dass du den Schwarzen umgebracht hast?«
Wieder schwieg Paul. Von draußen hörte man schwach Leute rufen und Autos an- und abfahren. Auch das Klingeln der Straßenbahn war wieder zu vernehmen. Draußen wurde ganz normal gelebt, dachte Lilli. In der Kirche selbst wurde gestorben. Und hier, in der Sakristei, war sie. Zwischen den Welten. Ein großes Gefühl der Unwirklichkeit überkam sie, und sie hörte Pauls Antwort seltsam distanziert.
»Er hasst mich. Er kann mir nicht verzeihen.«
Wieder machte er eine Pause. Man hörte ihn schwer atmen. Aus der Kirche selbst kamen gar keine Geräusche mehr.
»Lilli«, sagte Paul, und jetzt hörte sie an seiner Stimme, wie verzweifelt er war, »Lilli, ich war zu feige, damals. Ich hätte rausgehen und ihn holen können, und ich habe es nicht getan. Ich habe im Graben gesessen und mir gesagt. Geh raus! Geh raus! Hol ihn! Und er hat die ganze Zeit nach mir gerufen. ›Paul!‹ hat er geschrien. Hundert Mal. Und ich
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