Das Diamantenmädchen (German Edition)
der Tür und zögerte. Der Auftrag von Schuberts war ihr heute Vormittag noch wie ein glücklicher Zufall vorgekommen. Plötzlich hatte sie einen Grund gehabt, der von außen kam, um Paul zu besuchen. Aber jetzt, vor der Tür des Hauses, kam die Unsicherheit zurück. Sie sah nach unten, und dabei fiel ihr Blick auf ihre Hände. Kurz überlegte sie, aber dann streifte sie den schmalen Silberring mit dem grünen Stein ab. Ein kleiner weißer Streifen lief um ihren Ringfinger.
»Dummes Mädchen!«, schalt sie sich selber, steckte den Ring ein, holte tief Luft und klingelte.
Eine alte Frau öffnete, und Lilli brauchte eine Sekunde, um Gerda zu erkennen, das belgische Mädchen der van der Laans, das noch immer im Hause war. Irgendwie hatte sie nicht mit so vielen Kindheitserinnerungen auf einmal gerechnet.
»Bitte?«, fragte Gerda mit einer kratzigen Altfrauenstimme kurz, aber einigermaßen höflich. Ganz offensichtlich erkannte sie Lilli nicht.
Einen Augenblick war sie versucht, einfach »Hallo Gerda« zu sagen, wie sie es als Kind mit gespielter Unbefangenheit getan hatte. Aber dann sagte sie doch einfach nur:
»Ich würde gerne Herrn van der Laan sprechen.«
»Angemeldet?«, fragte Gerda so unhöflich knapp, wie sie immer gewesen war.
»Nein«, antwortete Lilli, »aber wenn Sie ihm sagen, wer ich bin, wird er mich schon sehen wollen, denke ich.«
Sie gab Gerda eine Karte. Das Hausmädchen warf keinen Blick darauf, als sie die Tür wieder schloss. Lilli stand da und war sich ganz und gar nicht sicher, dass Paul sie würde sehen wollen. Und jetzt, in diesem Augenblick, war sie sich auch nicht mehr sicher, ob sie selber Paul sehen wollte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen. Aber nun stand sie einmal da, und Bangemachen gilt nicht, dachte sie spöttisch den alten Kinderspruch, um sich Mut einzuflüstern.
Das Warten zog sich.
»Hier entlang.«
So plötzlich, wie sich die Tür geschlossen hatte, war sie wieder offen. Gerda zeigte mit der Hand auf das Teezimmer, das Lilli so gut kannte.
»Danke«, sagte sie und ging voraus, »ich kenne den Weg.«
»Lilli?«, klang es überrascht aus dem Teezimmer. »Lilli Kornfeld?«
Man konnte nicht sagen, ob Paul sich freute oder ob er verärgert war. Lilli spürte die Anspannung in ihrem Körper und nahm sich zusammen. Sie wollte eben klopfen, aber da stand Paul schon in der Tür. Er hatte eine Tasse in der Hand, so als hätte Gerda keinen Besuch gemeldet, und er war blass.
»Hallo Paul«, sagte Lilli nach einem langen Moment und streckte ihm die Hand hin. Paul nahm sie mit einem winzigen Zögern.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie. Paul rettete sich in Höflichkeit und lächelte unverbindlich.
»Natürlich«, sagte er, »komm herein. Trinkst du Tee mit mir?«
Lilli nickte und trat ein. Das Zimmer hatte sich verändert. Der Plüsch, die Trockenblumen, das ungeheure Sofa, auf dem Pauls Mutter so gerne gesessen und gestrickt hatte – alles war verschwunden. Elegante Kühle hatte Einzug in den Raum gehalten. Hochmoderne Stühle aus Stahl und Stoff, ein niedriger, lang gestreckter, weiß lackierter Teetisch, ein schmaler Wandteppich mit streng geometrischem Muster in klaren Farben und die abstrakten Bilder an der Wand mit ihrem mathematischen Linien- und Farbenspiel sprachen von der Sicherheit eines ungewöhnlichen Geschmacks, aber sie waren wie eine glänzend schöne Oberfläche, die nichts über das Innere verriet.
Paul schenkte Tee ein. Selbst die Kanne war im Bauhausstil gehalten. Stahl. Porzellan. Klare Kanten.
»Du magst kühle Dinge, hm?«, fragte sie unvermittelt, um das Eis der letzten sechs Jahre zu brechen.
Paul stellte die Teekanne zurück auf den Tisch und dachte einen Augenblick ernsthaft nach. Lilli gab es einen kleinen Stich. Das war eines der Dinge gewesen, die sie so an ihm gemocht hatte.
»Ja«, gab er mit einem kleinen, entschuldigenden Lächeln zu, »ja und nein. Ich mag die Klarheit. Aber klare Dinge sind oft glatt und kühl. Was …«, er machte eine kleine Pause und gab ein Stück Zucker in seinen Tee, »was führt dich zu mir?«
Höflichkeit, dachte Lilli, kühle, schöne Höflichkeit.
»Du sollst das Deutsche Reich retten«, sagte sie gelassen. Vielleicht konnte man doch durch die Oberfläche dringen.
»Das habe ich schon mal versucht«, antwortete Paul nach einem Augenblick mit starrem Gesicht, »es hat nicht funktioniert.«
»Paul!«, sagte Lilli eindringlich. »Nicht. Der Krieg ist schon so lange vorbei.«
»Ja«,
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