Das Diamantenmädchen (German Edition)
überlebte. Er straffte sich und zwang sich, an den Mord zu denken. Es ist Herbst, dachte er ironisch lächelnd, Jagdzeit.
5
War es in der vergangenen Woche wie im späten November gewesen, nass und unfreundlich kalt, so hatte sich die Sonne in den letzten zwei Tagen noch einmal mit Macht durchgesetzt. Es war ein Oktobertag von zerbrechlicher Schönheit; einer jener Tage, an denen ein perfektes Gleichgewicht zwischen den Jahreszeiten herrscht. Die großen Bäume in der Allee hatten angefangen, sich zu färben, aber es lag noch kaum Laub auf den Platten der alten Gehwege, die an den Villen entlangführten. Es waren Bäume, wie man sie in den Achtziger- und Neunzigerjahren gepflanzt hatte. Eichen. Kastanien. Linden. Keine schnell wachsenden Bäume wie Ahorn oder Robinien, und deshalb gab es auch kein leuchtendes Rot oder Gelb in den Kronen, sondern ein altes Herbstgrün, durch das die schräg stehende Sonne warm leuchtete. Das hohe Blau des Oktoberhimmels, der leichte Herbstwind, der in den Bäumen spielte, die altmodisch breiten Gehsteige, die von Backsteinmauern gesäumt wurden, in denen wohl noch ein wenig Sommerwärme gespeichert war; das alles wirkte wie eine liebevolle Illustration aus einem halb vergessenen Kinderbuch: verklärt schön, voller Sehnsucht nach einer Zeit, in der alles noch einfach war, und der Herbst eine Zeit der wilden Gerüche und selbstvergessenen Spiele.
Lilli ließ den Studebaker auf den Rasen zwischen zwei Kastanien rollen und schaltete den Motor aus. Sie war offen gefahren, und jetzt saß sie noch zwei Augenblicke. Es war so ein schöner Tag! Und das im Oktober. Sie hörte eine Grille aus einem der Gärten und fragte sich, ob es normal war, um diese Zeit im Jahr noch Grillen zu hören. Die Luft war angenehm kühl und roch nach Kastanienlaub. Immer hatte Lilli diesen Geruch gemocht. Er war so unverwechselbar und bedeutete Versteckspiele im Garten während einer unglaublich langen Dämmerung, hastige, zufällige, unglaublich süße Berührungen beim Rennen zum Anschlag, und, später, im Nebeldunst eines späten Oktoberabends, voll von Kastanienduft, beides: die erste Zigarette, der erste Kuss.
Lilli seufzte und stieg aus. Die Sonne schien und ließ die Erinnerung verdunsten. Sie ging den Gehsteig entlang, spürte beim Gehen ihren Rock an die Knie schwingen, und schritt die altvertraute Straße ab. Oft kam sie nicht mehr in diesen Teil der Stadt. Sie selbst wohnte in einer kleinen Wohnung mitten in Berlin, und ihre Mutter hatte das Haus verkauft, als Vater gefallen war.
»Wozu noch?«, hatte sie Lilli gefragt, die sich nicht vorstellen konnte, jemals irgendwo anders zu wohnen als in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. »Wozu? Es ist zu groß für uns.«
Sie hatte nicht gesagt, dass sie es sich auch nicht mehr leisten konnten, weil mit dem Tod des Vaters auch die kleine Bank allmählich in den Konkurs getrieben war. Zu viele wohlmeinende Geschäftsführer, Berater und Freunde. Man hatte froh sein können, dass zumindest so viel übrig geblieben war, dass ihre Mutter sich noch eine Wohnung hatte kaufen können. Den Rest hatte dann die Inflation gefressen.
Lilli sah das Viertel eigentlich das erste Mal mit den Augen einer Erwachsenen. Hektargroße Grundstücke waren das, manchmal mit fünfzigjährigen Bäumen, aber in die wenigsten von ihnen konnte man sehen, weil fast jedes Anwesen von einer Mauer umgeben war. Vornehmheit. Zurückgezogenheit. Reichtum. Das sagte jedes der Häuser in dieser Gegend. Der Krieg hatte sie kaum berührt. Die Revolution hatte ihnen nichts anhaben können und auch die Inflation nicht. Sie standen da: vornehm, zurückhaltend und reich wie ihre Besitzer. Aus den Gärten hinter den sonnenwarmen Backsteinmauern hörte man wieder das einsame Zirpen einer späten Grille, die der Sommer vergessen hatte. Vielleicht hatte sie den Garten nicht verlassen wollen, dachte Lilli und lächelte flüchtig über sich selbst, vielleicht, weil der Sommer so schön gewesen war.
Sie stand vor van der Laans Haus. Das Gartentor war angelehnt, ganz wie früher, und sie ging die wenigen Schritte den gepflasterten Weg bis zur kleinen Freitreppe, eingerahmt von den beiden geschwungenen Sandsteinmauern, deren Köpfe zwei kleine Löwen waren. Die Messingklingel war ein wenig angelaufen – früher hatte es das nicht gegeben, da hatte sie geglänzt, und Lilli hatte als kleines Mädchen selbstverständlich geglaubt, die Klingel am Diamantenhaus sei aus Gold.
Einen Moment lang stand sie vor
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