Das Diamantenmädchen (German Edition)
schlechte Zeit. Es war im späten Frühjahr, und es hatte auch schon lang nicht mehr geregnet. Die Gräben waren trocken. Unser Unterstand war auch trocken, und das war wirklich nur zwei Monate im Jahr so. Aber wir wussten schon, dass irgendwas im Kommen war.«
»Die Frühjahrsoffensive«, sagte Lilli. Sie hatte später angefangen, darüber zu lesen. Irgendwann hatte sie wissen wollen, wie es war.
»Ja«, sagte Paul, »die große Offensive. Am Anfang haben wir das noch ausgehalten. Am Anfang hatten wir Glück. Unser Frontabschnitt war nur unter Artilleriebeschuss. Wir mussten nicht raus. Am Anfang.«
Er machte eine Pause. Lilli konnte sehen, wie schwer es Paul fiel, darüber zu sprechen. Sie verhielt sich ganz still, um ihn nicht zu stören.
»Weißt du«, fuhr Paul dann fast versonnen fort und wandte sich zum ersten Mal direkt an sie, »zwischen Wilhelm und mir, das war fast wie Magie. Wir hatten schon so viel zusammen durchgemacht. Von unserer Kompanie hat vielleicht noch ein Drittel gelebt und wir waren immer durchgekommen. Als ich Fleckfieber hatte, hat Wilhelm fast jeden Tag nach mir geschaut. Und ich nach ihm, als er im Winter 16/17 Lungenentzündung gekriegt hat. Wir hatten alles überlebt. Und dann ist dieser Junitag gekommen. Es war fünf Uhr morgens, aber es war schon hell. Die Nacht war schon so unnatürlich ruhig gewesen. Kein Beschuss. Und morgens habe ich dann die Lerchen gehört. Eigentlich waren keine Vögel mehr im Kampfgebiet. Das Niemandsland zwischen den Gräben war so kaputt, dass …« Wieder machte er eine Pause und suchte nach Worten. Lilli sah zu ihm hin. Aus den Augenwinkeln nahm sie den Herbststurm wahr, der um die Ecken des Gebäudes pfiff. Die Fenster klirrten leise in den Rahmen. Hier in der Konditorei war es eigentlich angenehm warm, aber von den Fenstern kam ab und zu ein kalter Zug, der sie frösteln ließ.
»Das kann man sich einfach nicht vorstellen«, sagte Paul dann, »wie es im Niemandsland ist. Solche Landschaften gibt es gar nicht. Da ist nur noch Erde, die tausendmal umgeworfen wurde. Kein Gras. Kein Busch. Gar nichts. Vielleicht ein verbrannter Baum, der nie wieder Blätter haben wird. Und da habe ich die Lerchen gehört, und es war für einen Moment so wie damals, im Sommer, als wir klein waren.«
Lilli erinnerte sich an die Sommertage. Der Geruch nach Weizen im späten Juni. Die Lerchen, die man hörte, wenn man frühmorgens im Bett aufwachte und die Sonne trotzdem schon durch die Läden schien und das Sommergitter an die Wand malte. Auf einmal musste sie die Tränen zurückhalten, weil ihr beide, Paul und ihr Bruder, so leid taten.
»Und dann ist es losgegangen«, sagte Paul ausdruckslos, »Artilleriefeuer. Schrapnell. Vier Stunden auf unsere Stellungen. Wir haben Volltreffer gehabt. Ein ganzer Unterstand mit zwölf Mann – weg. Andere sind verschüttet worden. Die hörst du dann nicht mal schreien. Da siehst du eine Hand oder vielleicht einen Stiefel aus der Erde ragen und du gräbst und gräbst, und dann hört die Hand auf zu zucken. Und aus. Die Sanis sind nicht mehr nachgekommen. Und dann kam der Befehl, dass wir raus mussten. Bajonett aufpflanzen, fertig machen, und raus. Wilhelm und ich haben uns immer dreimal angespuckt. Immer hat es geholfen. Und dann sind wir die Leiter hoch und gerannt. Du weißt nicht, wie das ist«, sagte Paul ohne Vorwurf, »du rennst und schreist und schießt. Und dann hat es Wilhelm auf einmal umgerissen. Ich glaube, es hatte ihn im … er hat die Hand vors Gesicht geschlagen und da kam nur noch Blut und … es hat ihn eben einfach umgerissen, aber er war noch nicht tot. Ich bin weitergerannt, bis wieder Artilleriefeuer kam. Und die ganze Zeit habe ich ihn schreien gehört. Bis es neben mir eingeschlagen hat und ich plötzlich taub war. Das war das Gespenstischste von allem. Wie im Film, weißt du, wenn es keinen Klavierspieler gibt.«
Paul schwieg wieder. Als ob er sich auf irgendeine Weise versichern müsste, im Frieden und im Café zu sein, teilte er mit der Gabel ein Stück Kuchen ab, aß es aber nicht, sondern schob es auf dem Teller hin und her. Lilli sah zu. Sie hatte sich nie vorstellen wollen, wie Wilhelm gestorben war.
»Als ich wieder gehört habe, war ich zurück im Graben. Und ich hätte noch mal rausgehen sollen. Natürlich. Er hätte es getan, aber die Sanis haben mich nicht gelassen. Aber vielleicht habe ich auch nicht richtig gewollt … ich war zu feige. Man hat ihn nicht gefunden«, sagte Paul dann, wie um die
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